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Ein Wolf im Schafspelz: Heringe sind räuberischer als bislang angenommen

Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass sich Heringe vor allem von Plankton ernähren. Forschende des Thünen-Instituts für Ostseefischerei und der Universität Rostock haben nun nachgewiesen, dass Heringe in unseren Küstengewässern offenbar ganz gezielt Jagd auf andere Fische machen.

Ein Hering liegt auf einem Messbrett.
© Thünen-Institut/Paul Kotterba

Ein im Herbst 2012 im Greifswalder Bodden gefangener Hering, dem noch immer die Schwanzflosse eines erbeuteten Fisches aus dem Maul ragt.

Die Grafik zeigt mit Bildern und Pfeilen die komplizierte Beziehung zwischen Fischen und ihrer Nahrung
© Thünen-Institut/Paul Kotterba

Aufgrund der neuen Erkenntnisse muss der Hering in den Nahrungsnetzen unserer Küstengewässer neu einsortiert werden.

Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Rostock hat erstmals umfangreich untersucht, welche Bedeutung die Küstengewässer für die Ernährung der erwachsenen Heringe haben könnte. Im Fokus stand dabei der Greifswalder Bodden. Denn jedes Frühjahr ereignet sich dort ein besonderes Schauspiel: Dann versammeln sich die Elterntiere in großen Mengen zur Eiablage. Larven und Jungtiere des Herings der westlichen Ostsee wachsen anschließend im Schutz der Küstengewässer auf. Sie finden dort die so wichtige erste Nahrung in Form von kleinen Planktonorganismen.

Die Frage war nun, ob auch erwachsene Heringe dort genug zu fressen finden. Während die laichenden Tiere im Frühjahr erwartungsgemäß wenig bis gar nichts fraßen, sorgten die im Herbst gefangene Heringe für ein großes Erstaunen bei den Forschenden. In den Mägen dieser Fische fanden sich große Mengen an Grundeln. Das sind bodenlebende Kleinfische, die auf den sandigen Böden der Küstengewässer in großer Zahl vorkommen.

„Das ist in vielerlei Hinsicht überraschend“, sagt Paul Kotterba, Erstautor der bei der renommierten Fachzeitschrift Ecology publizierten Studie. „Bisher haben wir den Hering immer als Lehrbuchbeispiel eines Planktonfressers gesehen“. Dass die Tiere hin und wieder auch Fischlarven oder sehr kleine pelagische Fische fressen, wenn sie im Freiwasser darauf treffen, sei schon zuvor beschrieben worden. Die neue Studie zeigt hingegen, dass die Heringe im Herbst offenbar ganz gezielt in das flache Wasser wandern, um dort die Grundeln zu jagen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass dieses Verhalten den Tieren entscheidende Vorteile bringt, um über den bevorstehenden Winter zu kommen. „Da gibt es dann im Wasser deutlich weniger Nahrung in Form von Plankton“, führt Kotterba weiter aus. „Und das in einer Zeit des Jahres, in der die Tiere viel Energie für die Reifung benötigen, denn die nächste Laichzeit steht praktisch schon vor der Tür“.  

Die Ergebnisse haben auch Konsequenzen für künftige Methoden der Bestandsberechnung. Dafür werden bislang für die meisten Fischbestände vereinfachte Modelle verwendet. Sie berücksichtigen Einflüsse aus der Umwelt jedoch nur wenig. Weltweit versuchen Forschende allerdings, die Berechnungen noch präziser zu machen, indem sie die komplizierten Wechselwirkungen mit dem Ökosystem in die Gleichungen einfließen lassen. Dazu gehört auch die Verfügbarkeit von geeigneter Nahrung im saisonalen Verlauf. Für den Hering müssen aufgrund der neuen Erkenntnisse die bisherigen Annahmen zur Nahrungsökologie überdacht werden, wenn die künftigen Ansätze verlässliche Ergebnisse liefern sollen. In ihrer Studie entwerfen die Forscher*innen ein überarbeitetes Ostsee-Nahrungsnetz, dass dem Hering ganz neue Bedeutungen zuschreibt. Die US-amerikanischen Fachzeitschrift Ecology bewertet diese Ergebnisse als so bedeutend, dass sie als Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe hervorgehoben wurden.

Originalpublikation:

Kotterba, P., Moll, D., Winkler, H., Finke, A. und Polte, P.: A wolf in sheep's clothing: Planktivorous Atlantic herring preys on demersal fishes in coastal waters. Ecology. https://doi.org/10.1002/ecy.4363

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