Seetagebuch
Walther Herwig III, 467. Reise
Dauer der Reise: 3. Juni bis 11. Juli 2023
Fahrtgebiet: Nordatlantik
Zweck der Reise: Bestandsuntersuchung an grönländischen Grundfischbeständen und ozeanographisch/klimatologische Untersuchungen
Fahrtleiter: Karl-Michael Werner, Thünen-Institut für Seefischerei
Blog-Autor*innen: Sakis, Lina, Rebecca
Wir befinden uns im Nordatlantik, irgendwo zwischen Bremerhaven und Reykjavik. Auch dieses Jahr untersucht das Thünen-Institut für Seefischerei wieder Fischbestände und die physikalische Umwelt rund um Grönland. Dies ist die 467. Reise der Walther Herwig III, und es ist das erste Mal, dass wir im Sommer nach Grönland fahren.
Auch die Wissenschaft muss sich auf die Auswirkungen des Klimawandels einstellen. Seit einigen Jahren haben sich die Hoch- und Tiefdruckverhältnisse im Herbst deutlich verändert. Während unseres bisherigen Reisezeitraums im Oktober und November haben sich die schweren Stürme derart gehäuft, dass wir oft nicht mehr arbeiten konnten. Deshalb haben wir den Survey nun in den Frühsommer vorverlegt. Dies kann aber neue Überraschungen bergen: Obwohl anzunehmen ist, dass die Witterungsbedingungen besser sind, könnte das Meereis aus dem Winter die Arbeit noch erheblich erschweren. Das heißt, wir müssen erst Erfahrung mit neuen Arbeitsbedingungen sammeln.
Wie in den Jahren zuvor steht auch diese Reise wieder unter dem Motto „Wissenschaft für nachhaltige Meeresnutzung“: Wir sammeln Daten, um gemeinsam mit unseren Kollegen und Kolleginnen aus Grönland wissenschaftliche Fischfangquotenempfehlungen zu berechnen. Diese werden sowohl von der EU als auch den nationalen Regierungen der Nicht-EU-Staaten als Grundlage für ihre Festlegungen benutzt. Gleichzeitig erheben wir Daten zum Zustand der physikalischen Umwelt, um die Auswirkungen des Klimawandels zu dokumentieren. Nähere Infos finden Sie auf unseren Institutsseiten.
Wir freuen uns darauf, Ihnen in den nächsten Wochen mit Neuigkeiten, Entdeckungen und Anekdoten Einblicke in das Leben an Bord geben zu dürfen und grüßen ganz herzlich von der Walther Herwig III.
Karl-Michael Werner (Fahrtleiter)
Pünktlich auf die Minute heißt es am 3. Juni „Leinen los!“, und die Walther Herwig verlässt den Liegeplatz am Thünen-Institut in Bremerhaven Richtung Island. Hier sollen weiteres wissenschaftliches Personal und ein Koch der Besatzung an Bord kommen. Nur die Schleuse im Fischereihafen trennt uns vom offenen Ozean. Nachdem auch diese überwunden ist, geht es endlich auf eine spannende Forschungsreise in eisige Regionen des Nordens.
Die ersten Tage führen uns bei strahlend blauem Himmel quer über die Nordsee. Am 5. Juni fahren wir durch den Pentlands Firth, die Wasserstraße zwischen dem Festland Schottlands und den Orkney Inseln. Bekannt für die Gezeiten und dem starken Meereseinstrom, kann diese Engstelle vor allem bei Sturm sehr gefährlich werden. Wir haben Glück – das Wetter ist auf unserer Seite. Gegen den Strom haben wir allerdings an Geschwindigkeit verloren und kommen zunächst nur mit halber Kraft voran. Zum Glück erreichen wir schon bald unsere Reisegeschwindigkeit von 11 Knoten (knapp 20 km/h) und können weiter im Zeitplan bleiben. Noch ein kurzer Blick auf Schottland, dann geht es endlich in den Nordatlantik. Einschaukeln ist angesagt: Wir gewöhnen uns langsam an den Seegang. Dieses Jahr ist die See uns allerdings gnädig und gewährt uns einen sanften Einstieg. Der beste Platz bei Sonnenschein ist das Peildeck über der Brücke. Mit Ferngläsern bewaffnet lassen sich von hier immer Tiere beobachten.
Bei tollem Wetter halten wir Kurs auf Reykjavik. Bei so einer Überfahrt hat auch die Wissenschaft viel zu tun; wir treffen uns jeden Morgen nach dem Frühstück und bereiten das Labor vor. Alles will später ordentlich dokumentiert und protokolliert werden! Wir bauen Laborgeräte auf und sprechen die Abläufe durch. Wir machen Sicherheitsübungen und für die Interessierten gibt es eine Führung im Maschinenraum. Unsere Gruppe hat Zeit sich kennenzulernen. Erstmal sind wir zu siebt, in Reykjavik kommt dann der Fahrtleiter und eine weitere Wissenschaftlerin an Bord. Die nächsten drei bis vier Wochen werden wir zusammenarbeiten und -leben.
Am 8. Juni kommen wir frühmorgens um 3 Uhr in der Bucht vor Reykjavik an. Wir warten gespannt auf das Lotsenboot, das uns unseren Fahrtleiter, eine weitere Wissenschaftlerin und einen zweiten Koch bringen soll. Nicht ganz einfach: Nach einem wilden, gescheiterten ersten Versuch fahren wir gegen 12 Uhr weiter Richtung Hafen in ruhigeres Wasser. Dort klappt das Übersteigen.
Wir halten Kurs auf Grönland, unser erstes Ziel ist die Dohrnbank zwischen Island und Grönland. Dieses Gebiet ist bekannt für seinen Fischreichtum. Leider folgen zunächst schlechte Nachrichten: Eine dicke Schicht Packeis bedeckt große Teile der Dohrnbank. Das macht das Arbeiten gefährlich.
Die Brücke manövriert das Schiff geschult an der Eiskante entlang, bis wir nach dem Mittagessen die ersten eisfreien Stationen finden. Am Horizont entdecken wir Fischtrawler, die ihre Bahnen ziehen. Und bald sind auch schon die ersten Fische bei uns an Bord. Für alle immer wieder ein Highlight, es geht los!
Wir schaffen drei Hols an diesem Tag und nutzen die Fänge, um die Fische zu Reisebeginn genauer kennenzulernen. Unsere Zielarten sind Kabeljau und Rotbarsch. Klingt erstmal einfach, aber vom Rotbarsch gibt es hier drei Arten, die es zu unterscheiden gilt: Sebastes viviparus, Sebastes norwegicus und Sebastes mentella. Wir werden mit jedem Hol schneller, und am Ende des Tages läuft die Arbeit wie am Schnürchen. Immer, wenn das Netz ausgesetzt und wieder eingeholt wird, nennt man diesen Vorgang einen Hol. Bei vier Hols bedeutet dies für die Deckscrew und das Wissenschaftsteam eine Menge Arbeit.
Um eine ausreichend große Stichprobe zu sammeln, reichen uns ein kleines Netz und eine Schleppzeit von 30 Minuten. Dieser Schnappschuss der Fischfaunen-Zusammensetzung hilft uns hinterher, Rückschlüsse auf Bestandsgröße und den Zustand des Ökosystems zu ziehen. Im Gegensatz zur kommerziellen Fischerei, die stets versucht, viele Fische an Deck zu ziehen, ist für uns eine standardisierte Probennahme wichtig.
Wir hangeln uns immer noch an der ostgrönländischen Eiskante entlang und fischen dort, wo uns das Eis kleine Lücken gewährt. Diese viele Kilometer breite Eisbedeckung trennt uns vom grönländischen Festland, das wir bei toller Sicht auch schon das erste Mal mit dem Fernglas sehen können.
Regelmäßige Begleiter während der Reise sind Wale, wovon es hier zu dieser Jahreszeit besonders viele gibt. Um einen günstigen Blick zu erhaschen, muss man allerdings immer zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Anscheinend haben da manche mehr Glück als andere…
Zum Frühstück bereitete uns der Koch heute den ersten selbstgefangenen Fisch, und weil wir in der dicken Eisschicht immer wieder Lücken finden zum Arbeiten, ist die Stimmung hervorragend!
Direkt nach dem Frühstück kommt der erste Fisch des Tages an Bord. Die Waagen und Messbretter stehen bereit, wir haben unser Ölzeug an, es kann losgehen. Der Fisch fällt durch eine Luke an Deck in die „Hock“, ein schüsselähnlicher Einlass, von der die Probe anschließend über ein Fließband zur Sortierung ins Labor geleitet wird.
Im Labor wird die Probe dann aufgearbeitet. Seltene Fischarten mit einer hohen Überlebenswahrscheinlichkeit, wie Haie und Rochen, werden zwischenzeitlich in Wasserbecken gesetzt, um sie später freizulassen. Alle Fische werden gewogen und auf Art bestimmt. Mit Pinzetten und Messern bewaffnet machen wir uns an unsere Arbeitstische, wo wir in Zweierteams unsere Zielarten Rotbarsch und Kabeljau untersuchen. Eine Person bearbeitet den Fisch und die andere protokolliert. Wir erfassen Gewicht, Länge, Geschlecht und Reifegrad von jedem Tier. Ein weiterer wichtiger Teil unserer Beprobung ist das Sammeln der Otolithen. Das sind die Gehörknöchelchen der Fische; sie wachsen das ganze Leben lang und haben deshalb Ringe wie ein Baumstamm. Aus ihnen kann man das Alter bestimmen. Manchmal haben wir noch Zusatzaufgaben, wie den Fisch auf Parasiten zu untersuchen oder Magenproben zu sammeln.
Je nach Größe des Fangs, kann die Aufarbeitung des Fangs ein paar Stunden dauern. Es ist immer eine große Überraschung, was im Netz ist, denn von einigen wenigen Fischen bis zum ganzen Schwarm kann alles dabei sein. Unsere Proben sammeln wir mit einem Grundschleppnetz, das immer für 30 Minuten an vorgegebenen Stationen über den Grund geführt wird. Dies bedeutet, dass wir nicht den Fisch suchen, sondern standortbezogen arbeiten, um die räumliche Verteilung der Arten repräsentativ abzudecken. Es geht uns ja nicht darum, viel Fisch an Bord zu holen, sondern die Ergebnisse unserer standardisierten Fänge im Anschluss zu nutzen, um Rückschlüsse auf die Gesamtgröße eines Bestandes zu ziehen. Damit wir möglichst wenig Fisch verschwenden, steht die Schiffsmannschaft schon bereit und filetiert die beprobten Fische.
Ist der erste Hol aufgearbeitet, dann fällt auch schon der nächste in die Hock. Natürlich mit Pausen. An Bord sind die Essenszeiten heilig und können nicht verschoben werden. So geht es dann bis zum Abendessen. Heute schaffen wir fünf Hols. Nach dem Abendessen putzen wir gemeinsam das Labor. Frischer Fisch riecht nicht, aber wir sollten besser keinen über Nacht in der Ecke vergessen, also fix alles mit Seife und Wasser abschrubben, Geräte säubern und dann unter die Dusche. Heute wird es wohl ein ruhiges Abendprogramm, alle sind müde…
Eine weiße Wand – seit zwei Tagen hängen wir im Nebel, die Wolkenuntergrenze liegt bei 0 Metern und die Sichtweite ist dementsprechend schlecht. Ruhige See und kaum Wind bedeutet nun mal auch, dass nichts die Wolken wegschieben kann. Wenn wir dampfen, dann nicht mit voller Geschwindigkeit, damit die Brücke schnell auf Eisberge reagieren kann. Schiffsnavigation unter diesen Bedingungen ist eine Herausforderung und erfordert höchste Konzentration, eine Anstrengung für die Offiziere. Arbeiten können wir trotzdem, denn den Fischen ist der Nebel egal.
Wir verbringen die Zeit gerade viel im Schiff und sind seltener an Deck, deshalb nehmen wir euch heute nochmal mit ins Labor. Neben dem Fischlabor gibt es auch ein Chemielabor und hier habe ich, Lina, mich breitgemacht. Wer bei mir vorbeischaut, findet mich wohl oft rätselnd über einen Bewohner des Meeresbodens gebeugt. Ich kümmere mich um den Benthos-Beifang, also die am Boden lebenden Organismen. Bei mir landet erstmal alles auf dem Tisch, was kein Fisch ist: Seesterne, Seeigel, Schwämme und Korallen und dazu noch einige Kuriositäten wie Asselspinnen.
Ich zähle, wiege und bestimme, soweit ich kann. Danach nehme ich Proben für genetische Artbestimmungen. Zuhause im Labor kann so die erste, makroskopische Bestimmung verifiziert werden. Bei manchen Seesternen zum Beispiel muss man sich die Hautstruktur anschauen und bei Seeigeln fleißig Arme zählen und auf deren Anordnung achten. Dies ist auf See nicht immer einfach. Bei manchen Arten, wie Schwämmen, fällt die Bestimmung schwerer. Die Bestimmungsbücher für Benthos-Organismen um Grönland sind noch bescheiden und nicht immer hilfreich. So bleibt das ein oder andere Tier ein Rätsel, und ich bin selbst auf die spätere Analyse gespannt. Von den anderen getrennt mache ich mir also weiter in meinem kleinen Reich Gedanken über Schwämme und Korallen, im Hintergrund läuft meine Musik. Der Boden der Tiefsee fasziniert mich.
Zum ersten Mal findet unsere jährliche Grönlandreise im Sommer statt. Vor ein paar Jahrzehnten, Anfang der 1980er, war es noch so, dass der Herbst die vielversprechendste Arbeitszeit in Grönland war, da die Schelfgebiete vor Südostgrönland dann gewöhnlich eisfrei waren. Seit einigen Jahren jedoch ist das Untersuchungsgebiet im Herbst vermehrt schwereren Stürmen ausgesetzt als noch zu Beginn der Zeitreihe. Dadurch mussten in den vergangenen Jahren große Teile der Forschungsprogramme ausfallen.
Die Küstengebiete Südostgrönlands sind aktuell Schauplatz großer ozeanographischer und klimatischer Veränderungen. Zum einen hat der Transport von Meereis aus dem Arktischen Ozean Richtung Süden über den Ostgrönlandstrom von der Framstraße entlang der ostgrönländischen Küste bis zum Kap Farvel stark abgenommen, ebenso das Sommermeereis im Südosten Grönlands . Darüber hinaus ist die durchschnittliche Wassertemperatur des Ostgrönlandstromes deutlich gestiegen. Eine Erwärmung ist auch bei dem aus dem Süden kommenden Irmingerstrom zu beobachten, der warmes, salzhaltiges Atlantikwasser in die Region transportiert. Es wird vermutet, dass der starke Rückgang von Packeis im Sommer und die Erwärmung des Ozeans kaskadenartige Auswirkungen auf das Ökosystem in der Untersuchungsregion haben könnten, die sich z.B. in einer veränderten Fisch- und Zooplanktonfauna abbilden könnten.
Die Arbeit an der Eiskante stellt bei uns an Bord Brücke und Wissenschaft immer wieder vor Herausforderungen – das driftende Packeis sowie Eisberge können sich während eines Tages abhängig von Wind und Meeresströmungen um mehrere Kilometer verschieben. Das kann eventuell eine Gefahr für das Schiff darstellen. Obwohl wir immer mit aktuellen Eiskarten arbeiten, bedeutet dies, dass sich erst an der Station vor Ort herausstellt, ob diese abgearbeitet werden kann. Ein paar Kilometer entscheiden hier darüber, ob Proben genommen werden können oder nicht.
Leider geht diese Reise früher zu Ende als geplant. Mit einem Schaden am Schiff mussten wir zunächst in Reykjavik einlaufen. Der Schaden war allerdings auf die Schnelle nicht zu beheben, und so müssen wir schweren Herzens die Heimreise zurück nach Deutschland antreten. Somit fehlen uns wichtige Daten. Die Hoffnung liegt nun auf den Schultern unserer Kollegen und Kolleginnen aus Grönland, diese im Laufe des Jahres zu sammeln, um nächstes Jahr wieder wichtige wissenschaftliche Fangquotenempfehlungen zu berechnen.
Ich danke allen für das aufmerksame Verfolgen unseres Seetagebuchs und grüße herzlich
Karl-Michael Werner (Fahrtleiter)