Interviews ermöglichen den Zugang zu gesellschaftlichen Sinnzuschreibungen, die hinter dem Handeln und den Einstellungen von Menschen stehen. Qualitative Methoden der Sozialwissenschaft beruhen auf der Erkenntnis, dass Menschen die Welt ganz unterschiedlich wahrnehmen, Fachleute sprechen von Perspektivendifferenz.
Ethnomethodologie, Phänomenologie, Symbolischer Interaktionismus und Sozialkonstruktivismus sind wichtige Strömungen der qualitativen Sozialforschung, die herausgearbeitet haben, dass es nicht die eine Wirklichkeit schlechthin gibt. Vielmehr leben wir in vielfältigen Wirklichkeiten, da Menschen die sie umgebende Welt unterschiedlich sehen und interpretieren. Die Interpretation erfolgt dabei nicht willkürlich, sondern verläuft nach bestimmten sozialen Regeln. Nach welchen Regeln wir diese Welt wahrnehmen, lernen wir von unseren Eltern, in der Schule und voneinander. Dadurch teilen wir bestimmte Wirklichkeiten mit anderen. Dass diese Regeln nicht universell sind, bemerken wir oft erst, wenn wir einen Perspektivwechsel erleben wie beispielsweise die Abendbrot-Etikette bei Verwandten, der „Kulturschock“ bei einer Auslandsreise, das Unverständnis als Atheist gegenüber Strenggläubigen.
Erforschung sozialer Regeln
Die Erforschung dieser Regeln ist die Stärke der qualitativen Forschung. Die anleitende Frage qualitativer Sozialforschung ist dabei: Welchen Sinn gibt der Befragte seiner Wirklichkeit? Die Regeln, wie Wirklichkeiten konstruiert werden, leiten sich von dem sozialen Feld ab, in dem der Mensch eingebettet ist. „Wenn Menschen die Welt verstehen und ihr einen Sinn geben, dann tun sie dies im Kontext ihrer Lebenswelt", schreibt die Professorin Cornelia Helfferich in ihrem Buch „Die Qualität qualitativer Daten". Der einer Handlung innewohnende Sinn ist kein individuelles, er ist ein gemeinschaftlich geteiltes, sozial kollektives Phänomen. Es können nebeneinander mehrere Versionen der Wirklichkeit existieren, die sich unter Umständen auch widersprechen. Eine moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft produziert ebenso ausdifferenzierte (Wirklichkeits-)Perspektiven. Allein die geschlechtsspezifische Wirklichkeit von Männern und Frauen ist in unserer Gesellschaft unterschiedlich (konstruiert). Eine berufliche Karriere ist für Frauen immer noch schwieriger zu bewerkstelligen als für Männer, was sich statistisch in unterschiedlichen Durchschnittsgehältern ausdrückt (Gender-Pay-Gap). Hinter diesem symbolischen Gehaltsunterschied stehen verschiedene Lebenswelten, in denen Menschen ungleiche Chancen haben, ähnliche Handlungsziele anstreben.
Ziel ist es, menschliche Handlungen zu verstehen und zu erklären
Qualitative Interviews ermöglichen einen kommunikativen Zugang zu den Lebenswelten der Menschen. Interviewmitschnitte, Notizen, Transkripte sind Produkte dieser Kommunikation und dienen später als wissenschaftliche Datengrundlage. Die Datenanalyse zielt darauf ab, den Sinn, den Menschen ihrer Lebenswelt zuschreiben und nach dem sie ihr Handeln ausrichten, zu verstehen. Erst das Verstehen des Sinns ermöglicht es, eine menschliche Handlung oder eine Einstellung nachvollziehbar zu erklären. Qualitative Interviews leitet allgemein das Prinzip an, offen für die Sinnzuschreibungen von anderen zu sein. Nur wenn es den Befragten ermöglicht wird, ihre Sicht der Dinge im Gespräch mit den Forschenden darzulegen, besteht ein Zugang zur Lebenswelt und damit zur Lebenswirklichkeit des Befragten. Deshalb bestehen qualitative Interviews aus offenen Fragen und es liegt ihnen kein detaillierter Katalog mit geschlossenen Fragen zu Grunde.
Leitfragen statt Fragebogen
Stattdessen strukturieren in qualitativen Interviews wenige Leitfragen das Gespräch. Forschende sprechen hier auch von teilstrukturierten oder leitfadengestützten Interviews. Dabei gibt es unzählige Varianten, je nachdem, wie offen (unstrukturiert) oder geschlossen (standardisiert) die Leitfragen ausfallen. Biografische Interviews beispielsweise können eine einzige erzählgenerierende Frage setzen. Thematische oder problemzentrierte Interviews hingegen richten ihre Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Ausschnitte der Lebenswelt einer Befragten. Experten-Interviews befragen die zu Interviewenden als Träger*innen von Fachwissen und hinsichtlich einer bestimmten sozialen Rolle. Interviewt wird beispielsweise Ahmed Müller-Naser als Geschäftsführer der Karlmann GmbH und nicht als Vorsitzender des örtlichen Tischtennis-Vereins oder als Vater eines gehbehinderten Kindes.
Neben inhaltlichen Leitfragen werden oft zusätzlich Informationsfragen aufgenommen, um die Befragten mittels soziodemografischer Merkmale wie Alter, Bildung, Geschlecht, Einkommen, Beruf etc. gesellschaftlich einordnen zu können. Aufrechterhaltungsfragen und Steuerungsfragen sind meist nicht im eigentlichen Leitfaden enthalten, da sie je nach Interview variieren und der jeweiligen Interviewsituation angepasst werden müssen. Ihr Ziel ist es, das Gespräch mit der Befragten möglichst lange aufrechtzuerhalten. In dieser Weise erfahren Forschende möglichst viel über die Art und Weise, wie sozialer Sinn in der Lebenswelt der Befragten beschaffen ist.
Während es im 20. Jahrhundert in der Soziologie einen Methodenstreit über die Aussagekraft qualitativ-interpretativer und quantifizierender Verfahren gab, sind qualitative Interviews heute auch jenseits der Sozialwissenschaft weit verbreitet. Bei ihrer Anwendung wird dabei leider manchmal außer Acht gelassen, dass qualitative Forschung trotz ihrer offenen und flexiblen Herangehensweise wissenschaftlichen Gütekriterien folgt. Wichtige Kriterien sind:
- das Prinzip der Offenheit,
- die Angemessenheit der Methode,
- die Dokumentation des Forschungsprozesses,
- die Begründung einzelner Forschungsentscheidungen,
- die empirische Absicherung am Originalmaterial und
- die Bezugsherstellung der gewonnenen Hypothesen zu einer wissenschaftlichen Theorie.