Seetagebuch
Walther Herwig III, 462. Reise
Von Murielle Muesfeldt (Blog-Autorin) und Pedro Nogueira (Fahrtleiter) | 02.12.2022
Dauer der Reise: 29. November bis 19. Dezember 2022
Fahrtgebiet: Nord- und Ostsee
Zweck der Reise: Untersuchungen zu biologischen Schadstoffeffekten. Auf der Fahrt werden u.a. Fischproben für die Analytik von radioaktiven Substanzen, Schwermtallen und organischen Schadstoffen gewonnen und Abfälle/Müll gemäß ICES-Protokoll erfasst.
Fahrtleiter: Pedro Nogueira, Thünen-Institut für Fischereiökologie
++29./30.11.2022++ Ablegen
Ein grauer, regnerischer Tag in Bremerhaven: Fast verlassen lag die Walther Herwig III vor dem Thünen-Institut im trüben Hafenwasser. Noch hätte kein Beobachter geahnt, dass das Schiff innerhalb weniger Stunden beladen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Tonnen von Gepäck und wissenschaftlicher Ausrüstung auslaufen würde. Dennoch, die 462. Reise der Walther Herwig stand unmittelbar bevor. Schnell hatten wir das Schiff aufgerüstet, mussten nur noch – unabdingbar in Corona-Zeiten – auf die Ergebnisse der PCR-Tests warten und waren um 16 Uhr in der Schleuse angemeldet. Da wir uns zuvor alle vorsichtig verhalten hatten, gab es kein einziges positives Ergebnis.
Die ersten Stunden der Fahrt verbrachten wir damit, die Labore und unsere Kammern einzurichten und ordnungsgemäß alles zu sichern und fest zu verzurren.
Am nächsten Morgen erwartete uns eine ruhige See. Wir begannen mit der Fischerei im Gebiet GB1 nahe Helgoland. Einige der studentischen Hilfskräfte haben noch nicht viel Erfahrung mit Fischen, werden aber schnell eingearbeitet. Der Fang ist eindeutig dominiert von Wittlingen, zwischen denen sich vereinzelt Klieschen und Heringe befinden.
Wir kommen gut und zügig voran. Auch die Sicherheitsübung am Nachmittag bestehen wir mit Bravour. Jene, die zum ersten Mal an Bord sind, probieren auch gleich noch die Überlebensanzüge an. Im Notfall kann es nie schaden, schon etwas Erfahrung gesammelt zu haben.
++02.12.2022++ Eine Schlittenfahrt über den Meeresgrund
Hier in der Nordsee fischen wir, um Proben für die Radioökologie zu erhalten, und unsere estländischen Gastwissenschaftler beschäftigen sich mit Krebserkrankungen an Fischen. Darüber hinaus ist der Epibenthos-Schlitten im Einsatz. Leser*innen, die schon im letzten Jahr diesen Blog verfolgten, erinnern sich vielleicht daran, dass jener Schlitten schon damals testweise im Einsatz war. An dieser Stelle können wir also erfreut berichten, dass die Tests erfolgreich waren und der Schlitten auf dieser Reise regelmäßig im Einsatz ist.
Aber bevor Verwirrung darüber aufkommt, ob dieser Schlitten etwas mit Weihnachten zu tun haben könnte, lasst mich erklären, um was es sich dabei handelt: Es ist ein schlittenähnliches Konstrukt, welches mit Scheinwerfern und einer GoPro-Kamera ausgestattet ist. Mit dem Kran wird es über die Bordwand gehievt und an einem Drahtseil über die Winde hinuntergelassen, bis es auf dem Meeresboden aufkommt. Es wird noch ein bisschen mehr Seil gegeben, so dass der Schlitten auf seinen Kufen hinter dem Schiff hergezogen werden kann. Kamera, Scheinwerfer und drei Laser zur Bestimmung der Distanzen sind nach vorne auf den Meeresgrund ausgerichtet. So ist der Schlitten pro Durchgang eine Stunde lang im Einsatz und filmt den vor uns liegenden Meeresgrund.
Das gewonnene Videomaterial begutachten wir in kleinen Teams. Auch wenn wir einige interessante Sichtungen von Fischen, Wirbellosen und auch Rochen haben, geht es uns doch in erster Linie darum, den Müll am Meeresgrund zu dokumentieren. Alles, was nicht organisch aussieht, wird von uns in einer Tabelle und durch einen Video-Screenshot festgehalten.
Kurz gesagt: Der Epibenthos-Schlitten hat nicht viel mit Weihnachten zu tun. Dafür ist er aber sehr nützlich um zu erkennen, was sich alles auf dem Meeresboden befindet.
++05.12.2022++ Müll-Videos
Bisher gelang es uns immer, mit dem ersten Hol des Tages alle benötigten Proben zu erhalten. Wir arbeiten uns rasch, aber sorgfältig durch den Fang. Schließlich wollen wir, dass alle Fische, die überleben können, es auch tun. Danach ist immer der Epibenthos-Schlitten im Einsatz.
In diesen Tagen befinden wir uns in zwei Gebieten, die eine starke Müllverschmutzung aufweisen sollen. Hier werden wir nur den Schlitten benutzen. Pro Gebiet werden wir fünf Aufnahmedurchgänge machen, also jeweils fünf Stunden den Schlitten über den Meeresboden ziehen. So verbringen wir die meiste Zeit vor dem Bildschirm und analysieren die Videos auf Müll. Allzu viel finden wir nicht, und der direkte Grund dafür scheint ein anderes Fischereischiff zu sein, das zuvor ein Netz über den Meeresboden geschleppt und den Müll schon aufgenommen hat.
In der Zwischenzeit haben wir es uns an Bord etwas weihnachtlich gemacht. Eine Lichterkette, ein kleiner geschmückter Tannenbaum und selbstgemachte Sterne schmücken das Aquarium, unseren Aufenthaltsraum. Unsere Freizeit vertreiben wir uns mit Filmen, wissenschaftlichen Präsentationen und Diskussionen sowie Gesellschaftsspielen. Auch der Sportraum wird von uns viel frequentiert, ein guter Ausgleich für das Sitzen am Schreibtisch und das Analysieren der Aufnahmen des Epibenthos-Schlittens.
++06.12.2022++ Fischen im Skagerrak
Wer von der Nordsee mit dem Schiff in die Ostsee möchte, muss entweder durch den Nord-Ostsee-Kanal oder an Dänemark vorbei durch den Skagerrak fahren. Als waschechte Seebären freuen wir uns natürlich, den oberen Weg zu nehmen. Denn dies bedeutet auch, dass wir im Skagerrak fischen werden. Dort ist es 180 m tief – uns werden daher einige Arten ins Netz gehen, die wir in anderen Gebieten nicht fangen.
Tatsächlich, der Hol hat einige interessante Arten zu bieten. Neben einem beachtlichen Teil an Shrimps finden wir Kleine Schwarze Dornhaie (Etmopterus spinax), Lachsheringe (Maurolicus muelleri), Seelachse (Pollachius virens) und Seekatzen (Chimaera monstrosa).
Wir machen gleich zwei Hols. Für unsere estländischen Gastwissenschaftler sind Kabeljau und für die Radioökologie Stintdorsche dabei. Am Ende haben alle ihre Proben und mit etwas Glück gibt es sogar etwas Heimatfisch für uns.
Auch bereiten wir uns für den morgigen Tag vor. Wir wollen von Plattfischen verschiedene Proben für weitere Untersuchungen nehmen, zum Beispiel Augen, Gehirn und Leber. Damit es reibungslos ablaufen kann, üben wir an einigen Doggerscharben, die wir gefangen haben. Diese Plattfische kommen verbreitet im nördlichen Atlantik vor.
++12.12.2022++ Fischproben zur Untersuchung des Umweltzustands
Wie bereits erwähnt, entnehmen wir auf dieser Reise verschiedenen Plattfischen Gehirne, Augen, Leber, Gonaden, Mageninhalt, Filet und Skelett. Man kann also sagen, dass der ganze Fisch verwertet wird. Diesen Aufwand betreiben wir um herauszufinden, wie sich Caesium-137 in den verschiedenen Organen und Bestandteilen der Fische ablagert. Dieses radioaktive Isotop wurde im Zuge des Reaktorunfalls von Tschernobyl 1986 freigesetzt, mit dem Wind verdriftet und u.a. in die Ostsee eingetragen. Auch durch oberirdische Kernwaffentests gelangte Caesium-137 in die Umwelt und findet sich in Spuren in den Meeren wieder.
Das Thünen-Institut hat die gesetzliche Aufgabe, die Umweltradioaktivität in Meeresorganismen, vor allem Fisch, in den deutschen Meeresgebieten zu überwachen. Aus diesem Grund werden alljährlich auf der Winterreise der Walther Herwig III Fischproben genommen, um sie im Labor in Bremerhaven auf radioaktive Kontamination zu analysieren. Caesium-137 ähnelt in seiner chemischen Beschaffenheit dem Kalium und sammelt sich vorwiegend im Muskelgewebe an. Bisher wurden nur ganze Fische untersucht, wobei nicht zwischen den einzelnen Teilen unterschieden wurde. Über die Ablagerung in verschiedenen Körperteilen wie Gehirn und Augen ist bislang nur wenig bekannt. Mit der differenzierten Probennahme hoffen wir, neue und interessante Erkenntnisse zu erlangen.
Pro Fischart, also Flunder (Platichthys flesus), Scholle (Pleuronectes platessa) und Kliesche (Limanda limanda), benötigen wir 50 g Gehirn. Da ein Fischgehirn im Schnitt ungefähr 0,15 g wiegt, braucht es einige Zeit und viele Fische, bis wir die entsprechende Menge zusammen haben.
Mag diese Arbeit über die Tage etwas eintönig sein, so gab es doch eine große Überraschung mit unserem Epibenthos-Schlitten. Wir ahnten nichts, als wir ihn wieder an Bord gehievt hatten, doch der Videobeweis war eindeutig: Auf seinem Weg über den Meeresgrund kollidierte der Schlitten mit einem Felsbrocken, der sich unglücklicherweise im Weg befand. Wir freuen uns, diese Aufnahmen mit euch teilen zu können (s. Video). Der Schlitten blieb glücklicherweise unbeschädigt. Aber wie es dem Felsen geht, darüber können wir keine Aussage treffen…
++13.12.2022++ Müll und Landgang
Der Müll, den wir in der Nordsee fanden, bestand meist aus kleinen Teilen, darunter vor allem Monofilamente oder synthetische Seile, die aus der Fischerei stammen. Jeglicher hochgefischte Müll wird nach ICES-Standard protokolliert. Dazu zählen beispielsweise das Nassgewicht, die Art des Mülls sowie die Größenklasse.
Als wir in der Ostsee nun eine riesige Plane aus der Kieler Buch fischten, war dies eine große Überraschung. Immer wieder erschreckend, was sich alles an Müll auf dem Meeresboden findet und was dementsprechend achtlos weggeworfen wurde! Umso wichtiger ist es, mehr Daten zu diesem Thema zu sammeln, was beispielsweise auch über die Aufzeichnungen mit dem Epibenthos-Schlitten geschieht.
Am Tag darauf ist vorgesehen, in Kiel anzulegen. Dort werden unsere estländischen Gastwissenschaftler sowie die Praktikantin von Bord gehen. Seit ich als studentische Hilfskraft auf der Walther Herwig III arbeite, ist es das erste Mal, dass wir in einem anderen Hafen für einen Zwischenstopp anlegen. Die Aussicht, ein paar Besorgungen in der Stadt machen zu können und mal wieder spazieren zu gehen, ist verlockend.
Es ist bitterkalt, aber dennoch genießen wir unseren neu gewonnen Auslauf an Land. Abends verabschieden wir uns von jenen, die uns verlassen und am nächsten Morgen in aller Frühe raus müssen.
Es war schön, mal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, aber viel schöner ist es doch, wenn wir wieder auslaufen, um zu fischen und zu forschen.
++15.12.2022++ Ein Ende mit …
Wir fischen im östlichen Teil der deutschen Ostsee nach Flundern. Die Hols sind hier kleiner als bisher, und es dauert eine gewisse Zeit, bis wir genügend Flundern haben, die wir für die Präparation der Organe (Gehirn etc.) der einzelnen Plattfischarten benötigen (s. den Eintrag vom 12.12.).
Aber auch dies gelingt uns. Morgen steht nur noch ein Gebiet an, die Reise ist fast vorbei. Aber statt Fisch erwartet mich am nächsten Morgen eine böse Überraschung.
Selbstverständlich tragen wir seit Beginn unseres Landgangs in Kiel (s. Eintrag vom 13.12.) FFP2-Masken und nun, am zweiten Tag wieder auf See, machen wir auch vor dem Frühstück einen Corona-Schnelltest. Statt des gewohnten einen Streifens, erblicke ich zwei. Es ist passiert! Ich muss mich in Kiel angesteckt haben. Es ist das erste Mal, dass ich Corona habe – ich hatte schon gehofft, immun zu sein – aber irgendwann erwischt es wohl jeden einmal. Es ärgert mich nur ungemein, dass es ausgerechnet bei einer Seereise passiert. Aber immerhin scheine ich der einzige Fall zu sein.
Man kümmert sich liebevoll um mich. Ich bekomme mit, dass wir den Hol am Morgen noch aufgearbeitet und die benötigten Proben erhalten haben. Jetzt machen wir uns auf den Heimweg. Immerhin ist es uns noch gelungen, alle geplanten Gebiete zu befischen.
Somit wurde das Ziel der Reise erreicht, auch wenn das Ende hätte besser sein können. Gern hätte ich noch den letzten Abend mit den anderen verbracht, aber nun bin ich auf meiner Kammer isoliert und schreibe die letzten Zeilen dieses Seetagebuchs.
Ich wünsche allen eine schöne Weihnachtszeit – und das zu schaffen, was mir nicht gelungen ist: gesund zu bleiben!
Herzliche Grüße von Bord
Murielle