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Interview

„Beim Thema Wolf zählt Vorsorge über Ländergrenzen hinweg“

Kathrin Rieck mit Heiner Schumann | 13.07.2023


WO Institut für Waldökosysteme

Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland vor 20 Jahren sind Wölfe Thema in den Medien. Als geschützte Raubtierart, die sich großräumig bewegt, bleiben Konflikte mit Land-, Forstwirten und Jägern nicht aus. Wildtierökologe Heiner Schumann beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten mit dem Thema und ist unter anderem als Wolfsbeauftragter für das Landesumweltamt Brandenburg tätig.

Das Fachgebiet Wildtierökologie am Thünen-Institut beschäftigt sich eigentlich mit jagdbarem Wild. Warum auch mit dem Wolf?

Der Wolf unterliegt auf Bundesebene dem Naturschutzrecht, jedoch fällt die Nutztierhaltung, die von Wolfsrissen betroffen ist, in den Zuständigkeitsbereich des Landwirtschaftsressorts. Hier berät das Thünen-Institut das BMEL. Zum Beispiel bei der Erarbeitung von Fördergrundsätzen für Präventionsleistungen oder bei der Bewertung von Projektanträgen, die durch die BLE abgewickelt werden. Dazu gibt es auch aus den Bundesländern heraus einen hohen Bedarf an Beratungsleistungen im Zusammenhang mit Herdenschutz und Rissbegutachtungen oder bei Fragen der Entnahme von Wölfen mit problematischem Verhalten. Vor allem hierbei sind Fragestellungen mit jagdpraktischem Bezug zu klären.

Wie kann man sich die Aufgaben eines Wolfsbeauftragten vorstellen?

Die Wolfsbeauftragten des Landesamtes für Umwelt sind ehrenamtlich auf Landkreisebene tätig. Hauptaufgabe ist es, aktiv das Wolfsmonitoring in der Fläche durchzuführen und Wolfssichtungen und Hinweise auf Wolfsanwesenheit aus der Bevölkerung aufzunehmen, zu verifizieren und zu dokumentieren. Die gesammelten Daten werden dann dem Landesumweltamt gebündelt zur Verfügung gestellt. Hierfür werden als wichtigstes Hilfsmittel Fotofallen eingesetzt. Auch die Suche nach Spuren, nach Haaren, Urin, Blut oder Losung sind Bestandteile der Arbeit, um die Wolfsrudel genetisch zu erfassen und Territorien voneinander abgrenzen zu können. Dazu gehört auch die Öffentlichkeitsarbeit, um die Bevölkerung zu informieren. Erfahrungen aus der Praxis sind hilfreich, um am Thünen-Institut Behörden gut beraten zu können, daher sind die Wege vom Feld in die Entscheidungssphären relativ kurz.

Auch, wenn es die Wölfe schon wieder seit zwei Jahrzehnten bei uns gibt, wird nach wie vor in den Medien viel und kontrovers über den Wolf diskutiert. Wie sieht es mit den Fakten aus?

Im Monitoringjahr 2021/2022 wurden insgesamt 161 Rudel, 43 Paare und 21 territoriale Einzeltiere in Deutschland bestätigt. Die Auswertung der von den Bundesländern erhobenen Monitoringdaten im abgelaufenen Monitoringjahr 2022/2023 sind derzeit noch in der Auswertung. Ich rechne hier mit einem moderaten Anstieg der Bestandszahlen.
Nachdem die Wölfe in Deutschland nach starker Verfolgung fast 150 Jahre weitgehend von der Bildfläche verschwunden waren, sind um das Jahr 2000 einzelne Tiere von Polen nach Ostdeutschland eingewandert. Weil sie seit 1990 unter Schutz stehen, konnten sich Wölfe wieder dauerhaft ansiedeln. Innerhalb weniger Jahre kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Bestandszahlen und in einigen Regionen zu einer rasanten Besiedlung in der Fläche – der Süden Brandenburgs ist zum Beispiel inzwischen nahezu flächendeckend besiedelt. In weiten Teilen Nord- und Ostdeutschlands gibt es bereits Wolfsvorkommen.

Was heißt flächendeckend besiedelt? Wie viele Wölfe könnten in Deutschland leben?

Das bedeutet, dass praktisch alle Bereiche einer Region, eines Bundeslandes, in denen Wölfe vorkommen könnten, auch durch Wölfe besiedelt sind. Das meint nicht, dass man den Wald vor lauter Wolfsrücken nicht mehr sieht, aber dass, im meistens ländlichen Raum, in nahezu jedem potenziellen Gebiet auch Wölfe vorkommen. Dabei beanspruchen die einzelnen Wolfsrudel jeweils ein großes Gebiet für sich, in dem sie sich bewegen und welches sie gegen benachbarte Wolfsrudel verteidigen. Das Verbreitungsgebiet einer Wolfsfamilie ist hierzulande mit durchschnittlich 100 bis 350 km² ziemlich groß. Zum Vergleich: Potsdam hat eine Fläche von knapp 190 km². Das hängt von vielen Faktoren, vor allem von der Beuteverfügbarkeit ab. In Skandinavien, in denen die Dichte der Beutetiere geringer ist, sind die Territorien sogar bis zu 1000 km² groß oder auch mal größer.
Es gibt Ansätze, bei denen Berliner Wissenschaftler berechnet haben, wie viele Wolfsgebiete in Deutschland theoretisch geeignet wären. Demnach wären zwischen 700 und 1400 Territorien denkbar. Das ist aber nur ein gedanklicher Ansatz und sagt nichts dazu aus, wie viele Wölfe jemals in Deutschland leben werden, denn das hängt natürlich auch von der Akzeptanz in der Gesellschaft ab und kann sich jederzeit ändern.

Wenn die Zahl der Wölfe zunimmt, steigt dann auch die Anzahl der Konflikte?

Wir beobachten mit steigenden Bestandszahlen der Wölfe auch mehr Übergriffe und damit einhergehendes Konfliktpotenzial. Allerdings sollte man das nicht pauschalisieren. Das ist von Bundesland zu Bundesland bzw. viel mehr von Wolfsterritorium zu Wolfsterritorium verschieden. Es gibt Gebiete, wo es praktisch keine Probleme gibt und andere mit großen Problemen. Wie immer in der Natur steht dahinter ein ganzes Bündel an Gründen und Faktoren. Was aber ganz sicher erkennbar ist, dass es die allergrößten Konflikte in Gegenden gibt, wo Wölfe neu auftreten und vor allem die Weidetierhalter, aber auch Jäger mehr oder weniger starke Veränderungen erfahren. Doch auch in der Bevölkerung ist die Unsicherheit häufig sehr groß, wenn erstmals ein Wolf in Situationen auftaucht, mit denen der Beobachter nicht gerechnet hat. Das ändert sich jedoch meist mit der Zeit – so löst eine unproblematische Wolfssichtung in traditionellen Wolfsgebieten – in manchen Bereichen gibt es nun seit über 20 Jahren wieder Wölfe – nur noch selten große Aufregung aus.

In dem Kontext wird immer wieder diskutiert, den Wolf ins Jagdrecht zu nehmen. Was heißt das am Ende und in welchen Bundesländern ist das bereits der Fall?

Seit mehr als zehn Jahren schon unterliegt der Wolf in Sachsen und inzwischen auch in Niedersachsen dem Jagdrecht. Und auch weitere Bundesländer wollen den Wolf ins Jagdrecht überführen. Das ändert zunächst gar nichts am Schutzstatus des Wolfes, der weiterhin streng geschützt bleibt und nicht regulär bejagt wird. Es ermöglicht aber eine leichtere Einbindung der Jägerschaften in das Management. Einzelabschüsse aufgrund von unerwünschtem Verhalten sind in beiden Rechtsformen immer möglich, letztlich ist für die Betroffenen nicht entscheidend, unter welchem Rechtskreis der Wolf behandelt wird, sondern, dass Probleme adäquat und zügig gelöst werden können. Gerade beim Faktor Zeit zwischen einer Entscheidung und der Umsetzung wäre ein pragmatischeres Vorgehen, wie in anderen Ländern, wünschenswert.

Kann der Blick über die Ländergrenzen bei den eigenen Fragen helfen?

Gerade bei einer so hochmobilen Art, die bis zu 100 km am Tag überwinden kann und vor Staatsgrenzen nicht haltmacht, sollte der Blick nicht nur auf die eigenen Verwaltungsgrenzen beschränkt bleiben. Unlängst war ich auf einer internationalen Konferenz zum Thema in Schweden, deren Titel passender kaum sein könnte: „Wolves across borders“. Der Austausch mit anderen Ländern ist absolut wichtig, denn wir können sehr viel von den Erfahrungen lernen; vor allem von den Ländern, wo der Wolf nie verschwunden war. Anschließend kamen dann die schwedischen Kollegen nach Brandenburg um sich über das Management hier zu informieren. Genauso teilen wir unsere Erfahrungen mit Ländern, die erst wenig Erfahrungen im Umgang mit dem Wolf haben und sich darauf vorbereiten wollen. Als Teilnehmer der deutschen Delegation einer Arbeitsgruppe der Alpenkonvention tauschen wir uns regelmäßig mit anderen Alpenanrainerstaaten über große Beutegreifer aus.

Wie gehen andere Länder mit den Wölfen um?

Interessanterweise sehr unterschiedlich. Auch die Interpretation von EU-weit gültigen Vorgaben unterscheidet sich zwischen den Ländern sehr. So drehen sich viele Fragestellungen um das schwedische oder französische Wolfsmanagement, wo Wölfe in nennenswerter Zahl geschossen werden. Auch hieraus ergibt sich ein hoher Beratungsbedarf, den das Thünen-Institut versucht zu erfüllen. Man kann viel voneinander zu lernen, doch gibt es kein Land, wo im Wolfsmanagement alles perfekt läuft.
Trotz der immer wieder nötigen Verbesserungen des Systems braucht sich Deutschland jedoch weder bei der Unterstützung der Tierhalter im präventiven Herdenschutz noch im Monitoring vor den Nachbarstaaten zu verstecken. Deutschland leistet hier bereits sehr viel. Im Sinne der betroffenen Tierhalter würde ich mir zukünftig nur einiges mehr an Pragmatismus wünschen.

Was wären Ihre Empfehlungen für ein zukünftiges Wolfsmanagement in Deutschland?

Vorsorglicher Schutz von Nutztieren in noch unbesiedelten Regionen und der Blick über Ländergrenzen sind wegweisend im Umgang mit dem Wolf. Diese Tierart führt uns immer wieder vor Augen, dass unsere Verwaltungsstrukturen und Regelwerke kaum auf Tiere mit derart großem Aktionsradius ausgelegt sind. Ein einheitliches Vorgehen in den verschiedenen Bereichen des Wolfsmanagements ist daher wichtig. Auch ist es dringend an der Zeit, dass sich Tierhalter überall in Deutschland durch Unterstützungsleistungen des Staates vor Wolfsübergriffen schützen können – und zwar möglichst schon lange, bevor der Wolf sich überhaupt in einer Region ansiedelt, denn dies tut er für viele meist überraschend und ohne Anmeldung. Auch bei den zunehmend nötig werdenden Entnahmen wird es hoffentlich weitere pragmatischere Ansätze und Routinen geben. Dieser Aspekt ist besonders relevant für Weidetierhalter im Alpenraum, in Hanglagen und in Küstengebieten, wo ein Schutz der Weidetiere oft extrem aufwändig oder stellenweise kaum möglich ist. Mit Konflikten wird man weiterhin leben müssen. Heutzutage haben wir allerdings viele Möglichkeiten, die es zu historischen Zeiten nicht gab. Elektrozäune zum Beispiel ermöglichen uns effektivere Schutzmaßnahmen und jagdliche Nachtzieltechnik ein präziseres Vorgehen bei der Tötung von Wölfen mit unerwünschtem Verhalten.
Ich denke, wenn man der Bevölkerung intensiv und auch anhand von Beispielen vermittelt, dass man sich bei auftretenden Problemen auf die Behörden verlassen kann, dann kann man besser mit dem Wolf als Nachbarn umgehen. Denn trotz aller Probleme ist seine Rückkehr doch eine Bereicherung in der Natur, die auch viele Menschen fasziniert.

Vielen Dank für das Gespräch.

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