Kommentar
Krieg, Hunger, Solidarität
Folkhard Isermeyer | 01.07.2022
Die Agrarpreise sind 2022 so stark und so schnell angestiegen wie noch nie. Hierfür gibt es mehrere Ursachen, die zusammentrafen. Schlussendlich war es der Überfall Russlands auf die Ukraine, der für Panik an den Märkten sorgte, die Spekulation beflügelte und die Preise nach oben katapultierte. Das betrifft auch viele Grundnahrungsmittel. Deshalb hat sich die Ernährungslage, die schon seit 2020 angespannt war, weiter zugespitzt. Jeden Monat steigt die Zahl der Menschen, die akut vom Hunger bedroht sind, vor allem in Afrika und Asien um Hunderttausende.
Was kann Deutschland tun, um diese humanitäre Katastrophe zu lindern? Die Bundesregierung stockt die Zahlungen an das Welternährungsprogramm auf, und sie unterstützt den Abtransport von ukrainischem Getreide auf dem Landweg. Außerdem darf die deutsche Landwirtschaft die ökologischen Vorrangflächen zur Erzeugung von Viehfutter nutzen, um mehr Ackerfläche für Nahrungsmittel frei zu bekommen. Nach Schätzungen des Thünen-Instituts wird das die Getreidemenge, die Deutschland zur Linderung der globalen Knappheit bereitstellen könnte, um ca. 2 Millionen Tonnen pro Jahr ansteigen lassen, im Wesentlichen aber erst zur Ernte 2023. Gemessen am aktuellen Weltmarkt-Defizit ist das relativ wenig. Die jährlichen Getreide-Exporte der Ukraine, die nun infolge des Krieges zum Teil gefährdet sind, lagen zuletzt zwischen 40 und 50 Millionen Tonnen.
Deutschland könnte noch mehr tun. Hierzu ist es erforderlich, den Fokus richtig zu setzen. Es geht in diesen Monaten nicht darum, das Welthungerproblem an sich zu lösen, denn hinter diesem Problem stecken viele Teilprobleme, die nur in Jahrzehnten zu überwinden sind (Armut, Bildung, Verteilungsgerechtigkeit, Korruption, lokale Konflikte usw.). Aktuell geht es »nur« darum, eine durch den Krieg verursachte Versorgungslücke möglichst schnell zu schließen, um die verschärften Problemlagen in Entwicklungsländern abzuwenden. Da sich zusätzliches Getreide nicht kurzfristig herbeizaubern lässt, sollten wir dabei den Fokus auf den Getreideverbrauch richten. Die wichtigsten Stellschrauben sind bekannt: Tierhaltung, Verschwendung von Lebensmitteln, Bioenergie. In Deutschland verfüttern wir jährlich 25 Millionen Tonnen Getreide an Nutztiere. Wir werfen, umgerechnet in Getreideeinheiten, jährlich mehr als 10 Millionen Tonnen Lebensmittel in den Müll. Und auf der Fläche, die wir für Bioenergie nutzen, könnten rund 10 Millionen Tonnen Getreide für die Nahrungsmittelerzeugung wachsen.
Für die Reduzierung der Tierhaltung und der Lebensmittelverschwendung können wir alle etwas tun. Zum Beispiel weniger Butter und Wurst verbrauchen, stattdessen pflanzlichen Brotaufstrich nehmen, mehr Ordnung im Kühlschrank halten oder die Einkäufe besser planen. Eigentlich kein großes Opfer, eher ein kleiner Solidarbeitrag. Die Politik könnte das tatkräftig unterstützen, indem sie die Mehrwertsteuer für pflanzliche Lebensmittel auf null setzt und im Gegenzug die Vergünstigung für tierische Lebensmittel aufhebt. Sie könnte auch auf der Produktionsseite Anreize zur vorübergehenden Minderung der Tierhaltung setzen, zum Beispiel indem sie die Nicht-Belegung von Zuchtsauen vorübergehend fördert.
Bei der Bioenergie ist vorrangig die Politik am Zug. Mit Beimischungs- und Einspeiseregelungen hat sie diesen Wirtschaftszweig stark ausgedehnt, und sie hat es in der Hand, diesen Kurs auch wieder zu ändern. Langfristig wird die Energieversorgung primär durch Wind und Sonne erfolgen, und deren Potenziale sind riesig. Daher wäre es sinnvoll, weltweit die Bioenergieförderung schrittweise zurückzufahren und die Regelungen während des Sinkflugs flexibler zu gestalten: Wenn Nahrungsmittel knapp und teuer sind, sollte deren energetische Verwendung stark gedrosselt werden. Wenn die Weltagrarpreise dann einige Jahre später wieder niedrig sind, können die Bioenergie-Anlagen vorübergehend noch einmal hochgefahren werden, um fossile Brennstoffe zu ersetzen und die Klimaziele schneller zu erreichen.
Prof. Dr. Folkhard Isermeyer ist Präsident des Thünen-Instituts.