Interview
Ausdehnung des Ökolandbaus nicht nur eine Aufgabe der Politik
Agra-Europe | 13.12.2021
Thünen-Wissenschaftler Dr. Jürn Sanders fordert mehr Beteiligung von Wirtschaftsakteuren und der Zivilgesellschaft – Ein Interview mit Agra-Europe
Was haben Sie spontan gedacht, als Sie von der Zielsetzung im Koalitionsvertrag gelesen haben, den Anteil der Ökoanbauflächen bis 2030 auf 30 Prozent auszudehnen?
Ich war über die neue Zielsetzung nicht wirklich überrascht, nachdem die EU-Kommission sich mit ihrer Farm-to-Fork-Strategie für eine Öko-Anteil von 25 Prozent ausgesprochen hat, und in Deutschland einige Bundesländer ihre Öko-Flächenziele erhöht haben.
Politische Ausbauziele für den Ökolandbau werden seit langem kontrovers diskutiert. Befürworter verweisen auf die Signalwirkung, Kritiker warnen vor der Gefahr, dass damit eine nicht marktgerechte Entwicklung stimuliert wird oder bezweifeln grundsätzlich deren Sinnhaftigkeit. Wer hat Recht?
Angesichts der großen ökologischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wie beispielsweise die Begrenzung eines weiteren Anstiegs der Erderwärmung oder die Erhaltung der biologischen Vielfalt, ist es in meinen Augen folgerichtig, Produktionssysteme wie den Ökolandbau zu stärken, die nachweislich einen Beitrag zur Problemlösung leisten können. Wir sollten diese Stärkung dabei nicht per se davon abhängig machen, wie sich die Nachfrage nach diesen Produkten entwickelt; denn am Ende geht es darum, die ökologischen Probleme zu lösen. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, die Folgewirkungen politischer Maßnahmen zu berücksichtigen. Ein deutliches Auseinanderdriften von Angebot und Nachfrage wäre wenig nützlich. Wenn in Folge einer Politik-induzierten Angebotsausdehnung die Preise sinken, würde sich die relative Vorzüglichkeit der ökologischen Produktion nicht erhöhen.
Die Bundesregierung hatte sich erstmals 2002 unter einer grünen Landwirtschaftsministerin auf die Fahnen geschrieben, den Ökolandbau bis 2010 auf 20 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche auszudehnen. Inzwischen, elf Jahre später, liegen wir bei rund 10 Prozent. Warum ist es in den vergangenen 20 Jahren nicht annähernd gelungen, das 20-Prozent-Ziel zu erreichen – lag’s am Ziel, am Markt oder an der Politik?
Ich würde sagen, an allen drei Faktoren. Ich habe 20 Prozent seinerzeit allerdings auch weniger als ein konkret anzustrebendes politisches Ziel verstanden, sondern vielmehr als eine Vision, dass der ökologische Landbau mittelfristig ein relevanter Teil der Agrarbranche wird. Rückblickend werte ich es durchaus als einen Erfolg, dass die ökologisch bewirtschaftete Fläche und die Nachfrage nach ökologischen Lebensmitteln sich in Deutschland stetig ausgedehnt hat. In anderen europäischen Ländern wie beispielsweise in Großbritannien, Dänemark oder in Polen gab es hingegen sowohl Wachstums- als auch Schrumpfungsphasen. Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass die Kritiker*innen des 20-Prozent-Ziels seinerzeit mit ihrer Prognose falsch lagen, dass der Ausbau der Öko-Förderung zu sinkenden Preisen führt und deshalb abzulehnen ist. Die Maßnahmen haben damals dazu geführt, dass die gesamte Wertschöpfungskette gestärkt wurde.
Halten Sie vor diesem Hintergrund das Ziel im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP für realistisch, den Ökolandbau bis 2030 auf 30 Prozent auszudehnen, also zu verdreifachen?
Ich kann das Interesse an der Frage, ob ein Flächenanteil von 30 Prozent bis 2030 realistisch ist, nachvollziehen. Ich halte es aber für sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf zwei andere Fragen zu richten. Zum einen, mit welchen Maßnahmen könnte das Ziel erreicht werden. Und zum zweiten, welche Folgen wären mit diesen Maßnahmen verbunden bzw. wie sind diese zu bewerten. Wichtig ist dabei immer mitzudenken, dass es ja nicht nur um eine deutliche Ausdehnung der Fläche geht. Notwendig ist auch ein entsprechendes Wachstum der Verarbeitungskapazitäten und der Nachfrage nach Öko-Lebensmitteln, aber auch mehr Personal bei den Kontrollstellen, der Beratung oder der Agrarverwaltung.
Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, um innerhalb von neun Jahren zu erreichen, was in 20 Jahren nicht annähernd zu schaffen war?
Mehr Nachfrage nach ökologischen Produkten. Mehr Geld für die Honorierung von Umweltleistungen. Mehr Beratung, Bildung und Forschung. Aber letztendlich geht es nicht nur um ein einfaches Upscaling. Eine Verdreifachung der Ökofläche wird nur dann möglich sein, wenn es auch zu strukturellen Veränderungen kommt. Wir brauchen dafür mehr Beteiligung und Verantwortung der Wirtschaftsakteure und der Zivilgesellschaft. Und gleichzeitig sollten wir die Ausdehnung des ökologischen Landbaus nicht nur als eine Aufgabe der Politik verstehen. Die Zukunftsstrategie ökologischer Landbau, die das BMEL vor rund fünf Jahren vorgestellt hat und zu einem wichtigen Instrument der nationalen Öko-Förderpolitik geworden ist, sollte deshalb zu einer öffentlich-privat-zivilgesellschaftlichen Partnerschaft weiterentwickelt werden – zu einer Plattform, auf der eine gemeinsame Lösungsfindung vorangebracht wird.
Eine kohärente Agrarpolitik als Voraussetzung für eine weitere Ausweitung des Ökolandbaus – wie müsste die aussehen?
Eine gestaltende Agrarpolitik bleibt auch in Zukunft ein wichtiger Faktor. Dabei kommt es darauf an, dass die Impulse verschiedener Fördermaßnahmen sich nicht gegenseitig aufheben. Eine kohärente Agrarpolitik setzt deshalb voraus, dass mögliche Zielkonflikte offengelegt werden. In der Vergangenheit gab es beispielsweise mit der Politik zum Ausbau der Bioenergie und des Ökolandbaus zwei Bereiche, die nicht kohärent aufeinander abgestimmt waren. Um Zielkonflikte zu lösen bzw. zu vermeiden, kommt es darauf an, dass Zielsetzungen explizit genannt werden. Mit den GAP-Strategieplänen gibt es hierfür künftig eine gute Grundlage.
Was sind für landwirtschaftliche Betriebe die entscheidenden Faktoren für eine Umstellung?
Landwirtschaftliche Betriebe sind Unternehmen, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen mit ihrer Geschäftstätigkeit ein nachhaltiges Einkommen erzielen möchten. Die Wirtschaftlichkeit einer Umstellung ist deshalb weiterhin ein entscheidender Faktor. Allerdings ist es nicht der einzige. Das Bestreben, nachhaltig zu wirtschaften und verantwortungsbewusst mit Tieren auf dem Betrieb umzugehen, sind für viele Landwirt*innen weitere Beweggründe, sich mit dem Ökolandbau zu beschäftigen.
Welche Rolle spielt die spezifische Öko-Förderung – Umstellungsprämie und Ökoprämie – für die Entscheidung von Betrieben zur Umstellung?
Solange die Folgekosten der landwirtschaftlichen Produktion nicht vollständig internalisiert werden, das heißt sich nicht im Preis für ein Produkt widerspiegeln, so lange ist die Öko-Förderung eine wichtige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit des Ökolandbaus gegenüber der konventionellen Produktion und damit für die Umstellung. Das gleiche gilt auch die Erbringung von öffentlichen Gütern.
Wie hat sich die wirtschaftliche Lage der Öko-Betriebe im letzten Wirtschaftsjahr entwickelt?
Wir sehen schon seit vielen Jahren, dass sich die Einkommenssituation in der deutschen Landwirtschaft sehr unterschiedlich entwickelt. Gleiches trifft auch auf den Ökolandbau zu. Durchschnittsbetrachtungen helfen da nur wenig. Grundsätzlich zeigen unsere Analysen aber, dass der ökologische Landbau für viele Betriebe eine lohnenswerte Option ist. Das rasante Wachstum der Brache mit einem jährlichen Zuwachs von rund 10 Prozent in den letzten fünf Jahren zeigt, dass viele Betriebsleiter*innen diese Einschätzung für ihren Betrieb so teilen.
Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Entwicklung in diesem und den kommenden Jahren?
Aufgrund der hohen politischen Aufmerksamkeit, die dem Ökolandbau zuteil wird, und der weiterhin positiven Marktentwicklung gehe ich davon aus, dass sich der bisherige Trend auch in diesem bzw. in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Einschränkend möchte ich allerdings hinzufügen, dass die Veränderungen der neue GAP und der neuen EU-Öko-Verordnung zu Verunsicherungen geführt hat. Es wird sich zeigen, wie sich dies auswirken wird.
Warum schneiden Ökobetriebe in der Regel besser ab als konventionelle Betriebe?
Die Sichtweise, dass Ökobetriebe in der Regel besser abschneiden als konventionelle Betriebe, teile ich so nicht. Richtig ist aber, dass viele Ökobetriebe ein höheres Einkommen als konventionelle Betriebe erzielen, die eine vergleichbare Ressourcenausstattung haben oder unter vergleichbaren standörtlichen Bedingungen wirtschaften. Entscheidend dafür sind Einsparungen bei den Materialkosten, eine gute Vermarktung und sicherlich zum Teil auch die staatliche Förderung.
Landwirtschaftliche Betriebe sind unterschiedlich erfolgreich. Unterscheiden sich die Ökobetriebe in dieser Hinsicht von konventionellen Betrieben?
Nein. Auch im Ökolandbau gibt es erfolgreiche und weniger erfolgreiche Betriebe. Ein entscheidendes Erfolgskriterium scheint mir hier die Fähigkeit zu sein, ein gut funktionierendes agrarökologisches System zu entwickeln. Erfolgreiche Ökolandwirt*innen sind immer auch gute Systemmanager*innen.
Wie kommt der Strukturwandel im Ökobereich zum Ausdruck?
Auch im ökologischen Landbau sehen wir, dass die Betriebe größer werden oder dass Betriebe nicht weiter bewirtschaftet werden. Und auch im Ökolandbau gibt es neue Formen der Betriebsorganisation. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Solidarische Landwirtschaft, das heißt lokale Zusammenschlüsse von Verbraucher*innen und einem oder mehreren Landwirt*innen. Diese Kooperationsform ist zwar auch in der ökologischen Landwirtschaft die Ausnahme; aber überdurchschnittlich häufig sind Ökobetriebe involviert.
Gilt „Wachsen oder Weichen“ auch im Ökolandbau?
Wie gesagt, den Trend hin zu größeren Betrieben beobachten wir auch im Ökolandbau. In den letzten zehn Jahren ist die durchschnittliche Betriebsgröße der Ökobetriebe um 6 Prozent gestiegen – in der Landwirtschaft insgesamt hingegen um 13 Prozent. Der Druck zu wachsen scheint demnach im Ökolandbau etwas weniger ausgeprägt zu sein. Neben der Option zu wachsen und Skaleneffekte zu erzielen, fällt es Ökobetrieben häufig leichter, sich durch eine höhere Wertschöpfung am Markt zu positionieren und so ihr Einkommen zu sichern.
Das Thünen-Institut hat in der Vergangenheit untersucht, warum Betriebe den Ökolandbau wieder aufgeben, nachdem sie umgestellt haben. Auf welche Größenordnung veranschlagen Sie den Anteil der „Rückumsteller“?
Wir haben uns vor etwa acht Jahren eingehend mit der Frage der Rückumstellung beschäftigt. Seinerzeit haben wir herausbekommen, dass jährlich etwa aus sehr unterschiedlichen Gründen 3 Prozent aus dem Ökolandbau aussteigen.
Wie hat sich das in den letzten Jahren entwickelt?
Hierzu liegen uns bisher noch keine Daten vor. Aber ich gehe davon aus, dass die Situation sich gegenüber unserer letzten Untersuchung nicht grundsätzlich verändert hat. Wie planen, im nächsten Jahr unsere Analyse mit neuen Zahlen aus der Agrarstrukturerhebung zu wiederholen. Dann wissen wir mehr.
Was sind die Gründe für eine Aufgabe des Ökolandbaus?
Ob ein Ökobetrieb die Rückkehr zum konventionellen Landbau in Erwägung zieht, hängt in der Regel von innerbetrieblichen, familiären und persönlichen Voraussetzungen ab sowie von externen Rahmenbedingungen. Gibt es dort gravierende Änderungen, wird die Wirtschaftsweise des Betriebes hinterfragt. In der Regel sind es mehrere Faktoren, die zu einer Rückumstellung führen. Eine besonders große Rolle spielen dabei ökonomische Motive, fehlende Entwicklungsperspektiven und Probleme mit den Ökorichtlinien und -kontrollen.
Kann gegengesteuert werden?
Die Ergebnisse unserer Arbeiten, aber auch die Analysen von anderen Forschungseinrichtungen verdeutlichen, dass Rückumstellungen nicht vollständig vermieden werden können. Wenn der ökologische Landbau nicht mehr zu den persönlichen und betrieblichen Voraussetzungen passt, kann eine Rückkehr zur konventionellen Wirtschaftsweise eine naheliegende Entscheidung sein. Unabhängig davon gibt es aber Ansatzpunkte, die Quote der Rückumsteller*innen zu verringern. Hierzu zählen unter anderem eine fundierte Umstellungsberatung, eine transparente Richtliniensetzung, eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der Ökokontrolle und Maßnahmen, die ganz allgemein zur Stärkung des Ökolandbaus beitragen.
Eine Ausweitung der Produktion allein ist nur ein Faktor für ein weiteres Wachstum der Ökobranche. Ist die Wertschöpfungskette so aufgestellt, dass eine wachsende Nachfrage bedient werden kann? Welche Defizite sehen Sie?
Nicht immer. Gerade in den Regionen, in denen der ökologische Landbau weniger stark vertreten ist, sind die Verarbeitungskapazitäten beschränkt. Gerade deshalb unterstützen Bund und Länder durch vielfältige Maßnahmen den Aufbau und die Weiterentwicklung von Bio-Wertschöpfungsketten.
Welcher Anteil der Nachfrage wird derzeit aus heimischer Produktion gedeckt?
Der Anteil der heimischen Produktion am Biomarkt ist je nach Produktbereich sehr unterschiedlich. Bei Getreide lag er zuletzt bei etwa 85 Prozent; bei Sonnenblumen hingegen nur bei 10 Prozent.
Kann der über eine Herkunftskennzeichnung gesteigert werden?
Ich denke schon, denn gerade die Öko-Konsument*innen sind an kurzen Wegen interessiert und bevorzugen Produkte aus der Region. Mit dem Regionalfenster gibt es bereits die Möglichkeit, auf der Verpackung auf die Herkunft des Produktes hinzuweisen. Das Label wird allerdings noch zu wenig genutzt. Richtig ist aber auch: Bei verarbeiteten Produkten, die aus verschiedenen Zutaten bestehen, ist die Kommunikation schwierig.
Wissenschaftler sind keine Hellseher. Dennoch die Frage, wie viel Prozent der Fläche wird der Ökolandbau im Jahr 2030 in Deutschland einnehmen?
Ich gehe davon aus, dass der Ökolandbau sowie ganz allgemein agrarökologische Praktiken weiter an Bedeutung gewinnen werden – und dies vor allem deshalb, weil Fragen des Klimaschutzes, der biologischen Vielfalt aber auch des Tierwohls weiterhin ein Treiber für Veränderungen sein werden. Wie hoch der Anteil der Ökofläche in Deutschland sein wird, hängt von vielen Faktoren ab. Wenn alle Akteure an einem Strang ziehen, werden wir uns dem Ziel bis 2030 ein gutes Stück angenähert haben.