Dass die deutsche Bevölkerung biologische Vielfalt schätzt, gilt als gesichert. Das Bundesumweltministerium (BMU) und das Bundesamt für Naturschutz (BfN) bestätigen dies regelmäßig, wenn die Ergebnisse der seit 2009 durchgeführten Studien zum Naturbewusstsein veröffentlicht werden. In diesen wird auch ein Gesellschaftsindikator erhoben, der die Einstellungen, Verhaltensbereitschaft und das Wissen der Deutschen zum Thema „biologische Vielfalt“ erfasst. Bisherige Ergebnisse weisen auf ein ausgeprägtes Naturbewusstsein hin. Beispielsweise zeigen die 2019 erhobenen Daten, dass 44 % der Bevölkerung sich der Bedeutung biologischer Vielfalt bewusst sind, 60 % eine positive Einstellung dazu haben und sogar 63 % Absichten äußern, sich für ihren Schutz einzusetzen.
Eine aktuelle Studie zeigt jetzt auf, dass diese Ergebnisse auf komplexe Weise durch soziale Erwünschtheit verfälscht sind. Das bedeutet, dass Befragte ihre Antworten nicht aufgrund ihrer tatsächlichen Einstellungen und Verhaltensabsichten abgeben, sondern sie an den vorherrschenden kulturellen Normen ausrichten. Sie antworten also so, wie sie glauben, dass es Interviewer erwarten. Das konnte man schon vorher vermuten, aber durch Einsatz einer auf Maschinellem Lernen aufbauenden Methode lassen sich jetzt erstmals systematisch die komplexen Verzerrungen mit statistischen Mitteln nachweisen.
Die neue Veröffentlichung nutzt diese innovative Methode, um aufzuzeigen, dass dieser Verzerrungseffekt die Befragungen zum Thema biologische Vielfalt in dynamischer Weise beeinflusst. Der Effekt scheint nicht bei allen Befragten gleichermaßen aufzutreten, sondern in spezifischer Form mit dem Alter der Interviewten zusammenzuhängen. Dadurch bleibt ungewiss, welche Aspekte der biologischen Vielfalt der deutschen Bevölkerung tatsächlich wichtig sind und welche nicht. Aussagen über die gesellschaftliche Relevanz von biologischer Vielfalt, die sich auf die Gesamtbevölkerung beziehen, sollten aufgrund der Ergebnisse dieser Studie kritisch hinterfragt werden.
Zur Veröffentlichung:
Krause T, Jetzkowitz J (2023) Sozial erwünschtes Bewusstsein für biologische Vielfalt? Ein neuer Zugang zu einem bekannten Problem mit normativ aufgeladenen Befragungsthemen, Soziale Welt 74 (2), 245–272, DOI: 10.5771/0038-6073-2023-2-245
Die Autoren:
Thomas Krause, Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim
Jens Jetzkowitz, Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen