Weiter zum Inhalt
Expertise

Neubürger, Heimkehrer und außergewöhnliche Gäste in der Nordsee

Holger Haslob, Hermann Neumann, Anne Sell (Wissenschaft erleben 2021/2)


SF Institut für Seefischerei

Das Thünen-Institut führt seit Jahrzehnten regelmäßig Forschungssurveys in der Nordsee durch. Dabei finden sich in den Netzfängen auch ungewöhnliche Organismen, die vor dem Hintergrund von Klima- und Biodiversitätswandel besonders interessant sind.

Das Thünen-Institut führt seit Jahrzehnten regelmäßig Forschungssurveys in der Nordsee durch. Dabei finden sich in den Netzfängen auch ungewöhnliche Organismen, die vor dem Hintergrund von Klima- und Biodiversitätswandel besonders interessant sind.

Klima- und Umweltveränderungen geschehen meist langsam und sind von natürlichen Schwankungen überlagert. Um verlässliche Aussagen über anhaltende Veränderungen zu machen, muss man diese von der kurzfristigen natürlichen Variabilität unterscheiden können. Hierfür ist eine intensive und standardisierte Beprobung unerlässlich, wie sie in den Fischereisurveys geschieht. Mit ihnen konnten Thünen-Forscher in jüngster Zeit Ereignisse dokumentieren, die klar aus den Survey-Zeitserien herausragen: Sie entdeckten mehrere Neubürger und Heimkehrer, also Arten, die für unsere Gewässer bisher noch nicht beschrieben wurden bzw. als ausgestorben galten.

Neubürger: Der langarmige Einsiedlerkrebs

Seit den frühen 1970er Jahren werden mit dem „Demersal Young Fish Survey“ (DYFS) jährlich die Nachwuchsjahrgänge der Bodenfische entlang der Nordseeküste untersucht. Er ist einer der umfangreichsten Surveys für Fische und bodenlebende wirbellose Organismen im deutschen Wattenmeer. Bei einem so langen Survey sind die vorkommenden Arten normalerweise bekannt. Umso überraschender war der Fang des Einsiedlerkrebses Pagurus longicarpus im Jahr 2020.

Bisherigen Nachweisen zufolge liegt seine Heimat an der Ostküste Nordamerikas. In der Nordsee war er bisher gänzlich unbekannt, so dass er nicht einmal einen deutschen Namen hatte. Abgeleitet vom amerikanischen Namen „long-wristed hermit“ haben wir ihn „Langarmiger Einsiedler“ getauft.

Neue Arten sind auch früher hin und wieder in unseren Meeresgebieten aufgetaucht. Aber der globalisierte Schiffsverkehr und die klimabedingte Erwärmung scheinen die Einschleppung und Etablierung neuer Arten in den letzten Jahrzehnten zu befördern. Mit Spannung wurde daher der DYFS 2021 erwartet. Dieser hat gezeigt: Der Langarmige Einsiedler ist noch da und hat sich sogar weiter ausgebreitet. In seinem Fall liegt die schiffsbedingte Einführung durch Ballastwasser nahe. Zudem deutet alles darauf hin, dass die Einschleppung erst kürzlich erfolgt ist.

Dies gibt den Thünen-Forschern die einmalige Gelegenheit, die Ausbreitung und deren Folgen von Anfang an zu untersuchen. So werden erst die nächsten Jahre zeigen, ob der Langarmige Einsiedler andere Arten verdrängt und damit als invasiv zu bezeichnen ist. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er sich wie die meisten neuen Arten „friedlich“ in den neuen Lebensraum eingliedern wird. Und obwohl die Einschleppung von Menschenhand kritisch zu beurteilen ist, könnte der Langarmige Einsiedler zunächst einmal neutral als Zugewinn für die Artenvielfalt betrachtet werden … bis die Surveydaten vielleicht eine andere Geschichte erzählen.

Heimkehrer: Das Seepferdchen

Für Aufsehen sorgten 2020 ebenfalls die DYFS-Fänge von zwei Seepferdchen (Hippocampus spec.) vor der Küste Ostfrieslands, seine ersten Funde in diesem Survey überhaupt. Schon im selben Sommer hatten Fischer von einem Seepferdchenfund im Borkumer Hafen berichtet. Handelt es sich hierbei um eine Rückkehr oder um eine Ausbreitung in nördlichere Gefilde?

Es wird vermutet, dass Seepferdchen früher durchaus im deutschen Wattenmeer heimisch waren, aber durch das Verschwinden großer Seegraswiesen keinen geeigneten Lebensraum mehr gefunden haben und somit verschwunden sind. Nach wie vor gibt es natürliche Populationen im Englischen Kanal und an der englischen Küste. Daher könnte es sein, dass hydrographische Bedingungen zu einer Verdriftung von Tieren entlang der Nordseeküste geführt haben und es sich hier um ein einmaliges Ereignis handelt. Dagegen spricht allerdings die Häufung von Funden an der deutschen Küste, die auch in anderen Quellen dokumentiert sind, so durch die bürgerwissenschaftliche App BeachExplorer des Vereins „Schutzstation Wattenmeer“.

Aktueller Einschub: Wenn Sie bei einem Strandspaziergang an der Nordsee ein Seepferdchen entdecken sollten, fotografiere Sie es und melden Sie es uns. Wir versuchen zusammen mit Partnern, einen Überblick über das aktuelle Vorkommen zu erlangen.

Die systematischen küstennahen Surveys des Thünen-Instituts werden zur Klärung der Fragen nach Zufall oder klimabedingten Trends beitragen, und letztlich auch zur Bewertung des Bedrohungsstatus solcher Arten.

Ungewöhnliche Phänomene: Massenhaft Moostierchen

Ein Moostierchen, die Zottige Seerinde (Electra pilosa), trat 2021 nicht zum ersten Mal in der Nordsee auf. Jedoch entwickelten die Kolonien aus diesen mikroskopisch kleinen Einzeltieren in diesem Jahr in bestimmten Zonen der Nordsee solche Massen, dass sie dort sogar die Fischerei verhinderten. Entsprechend mussten auch Thünen-Wissenschaftler auf mehreren Fangstationen des „International Bottom Trawl Survey“ ihre Standardfänge nach 3-5 Minuten erfolglos abbrechen, weil das eingesetzte Grundschleppnetz von Kolonien der Zottigen Seerinde komplett zugesetzt war.

Welche Kombination von Umweltfaktoren zu diesem Massenphänomen geführt hat, ist bislang gänzlich unklar. Bemerkenswert jedoch: Ein ähnliches Massenauftreten wurde vor ca. 60 Jahren schon einmal dokumentiert, im August 1965. Um mögliche Gründe für diese Parallelentwicklungen aufzudecken, sollen jetzt Vergleiche der Fangstationen erfolgen, in Hinsicht auf die dortigen Habitate und ihre ozeanographischen Bedingungen.


Quelle

Nach oben