

Institut für
LV Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen
Projekt
„Gefühle des Abgehängtseins“ in ländlichen Räumen?

In der öffentlichen und politischen Diskussion werden ländliche Räume stark unterschiedlich dargestellt. Teils gelten sie als wirtschaftlich prosperierende Orte mit hoher Wohnqualität, teils als „abgehängte“ Regionen. In diesem Forschungsprojekt wurde untersucht, wie die Bevölkerung ländlicher Regionen selbst die Situation vor Ort empfindet, ob sich "Gefühle des Abgehängtseins" finden lassen und welche politischen Konsequenzen sich daraus ergeben.
Hintergrund und Zielsetzung
Bei der Bundestagswahl 2017 zog mit der Alternative für Deutschland (AfD) erstmals eine rechtspopulistische Partei ins deutsche Parlament ein. Die AfD erreichte damals ein Zweitstimmenergebnis von 12,6 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde sie mit 10,3 Prozent erneut in den Bundestag gewählt.
Bereits seit längerem wurden die Jugendorganisation der AfD sowie die mittlerweile aufgelöste parteiinterne Gruppierung
„Flügel“ durch den Bundesverfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet. Mehrere Landesverbände der Partei stehen ebenfalls als rechtsextremistischer Verdachtsfall unter Beobachtung der Verfassungsschutzbehörden und der thüringische Landesverband gilt als „gesichert rechtsextremistisch“.
Die Wahlerfolge der AfD wurden in der öffentlichen Debatte als ein Indikator von Unzufriedenheit und auch als Ausdruck von "Gefühlen des Abgehängtseins" gedeutet.
Im Forschungsprojekt „Gefühle des Abgehängtseins“ in ländlichen Räumen? haben wir untersucht,was in der Öffentlichkeit unter „Abgehängtsein“ verstanden wird; ob die AfD tatsächlich in ländlichen Räumen besonders erfolgreich ist und wie Menschen in ländlichen Räumen die Situation wahrnehmen und deuten.
Vorgehensweise
In dem Projekt wurde zunächst in einer qualitativen Diskursanalyse die populär-mediale Debatte um die „Gefühle des Abgehängtseins“ aufgearbeitet und verschiedene mediale Darstellungen und Auffassungen des "Abgehängtseins" nachgezeichnet.
Anschließend wurden die Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2017 auf den Zusammenhang von Ländlichkeit und Zweitstimmenanteilen für die Partei Alternative für Deutschland (AfD) hin untersucht.
Anknüpfend an die Ergebnisse der Wahlanalyse wurden zehn unterschiedliche ländliche Regionen ausgewählt, in denen jeweils eine Gruppendiskussion geführt wurde. In den Gruppendiskussionen wurden allgemeine Fragen zu den Lebensverhältnissen und zur (Un-)Zufriedenheit in den ländlichen Räumen sowie spezifische Fragen zu den möglichen Verantwortlichkeiten politischer Akteure gestellt.
Daten und Methoden
- Grounded Theory
- qualitative Diskursanalyse von Zeitungsartikeln
- quantitative Analyse von Wahl- und Strukturdaten
- qualitative Analyse von Gruppendiskussionen
Unsere Forschungsfragen
- Was wird im populär-medialen Diskurs unter "Abgehängtsein" verstanden?
- Ist die AfD tatsächlich in ländlichen Räumen besonders erfolgreich?
- Wie nehmen die Menschen in ländlichen Räumen die Situtation wahr, wie zufrieden sind sie mit dem Leben dort, welche Unzufriedenheit herrscht vor und wen machen sie dafür verantwortlich?
Ergebnisse
In der Diskursanalyse wurden drei Bedeutungsebenen bzw. Narrative des „Abgehängtseins“ herausgearbeitet:
- infrastrukturell: als Folge einer Ausdünnung von Angeboten der Daseinsvorsorge
- wirtschaftlich: als Folge von Arbeitslosigkeit oder einer regionalen weniger guten wirtschaftlichen Lage
- kulturell: als Folge eines gesellschaftlichen Wertewandels hin zu kosmopolitisch-modernen Einstellungen.
Allen Narrativen ist gemein, dass sich die jeweils sogenannten „Abgehängten“ von den regierenden Parteien in ihren Ängsten und Sorgen nicht ernstgenommen fühlten. Daraufhin würden sie aus Protest oder inhaltlicher Überzeugung die AfD wählen.
Die Ergebnisse der quantitativen Analyse der Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2017 zeigen, dass die AfD in Ostdeutschland vor allem in eher ländlichen Gemeinden die höchsten Wahlergebnisse erzielte, während sich diese in Westdeutschland in eher und in nicht-ländlichen Gemeinden auf demselben Niveau befinden. Sowohl in West- als auch in Ostdeutschland weisen sehr ländliche Gemeinden 2017 meist geringere AfD-Wahlergebnisse im Vergleich zu den eher ländlichen Gemeinden auf. Dies änderte sich 2021 in Westdeutschland, als die AfD in sehr ländlichen Gemeinden etwas stärker abschnitt. Im Ergebnis ist die These, Menschen in ländlichen Räumen wählten eher die AfD, in ihrer pauschalisierenden Form zurückzuweisen. Eine differenziert Analyse ländlicher Räume ist notwendig.
Die Analyse der Gruppendiskussion ergab, dass in strukturstarken ländlichen Räumen eine hohe Zufriedenheit mit den lokalen Lebensverhältnissen vorherrscht und dass die AfD dort auch trotz lokal dominanter rechts-konservativer Kultur auf geringen Zuspruch trifft. Unzufriedenheit in (eher) strukturschwachen ländlichen Räumen ging nur dann mit hohen AfD-Wahlergebnissen einher, wenn lokal eine rechts-konservative politische Kultur dominierte. Die AfD erfuhr in strukturschwachen Räumen auch bei starker Unzufriedenheit über die Infrastruktur weniger Zuspruch, wenn lokal eine links-liberale politische Kultur vorherrschte.
Insgesamt war in den Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen der Bevölkerung eine Verflechtung infrastruktureller, kultureller und wirtschaftlicher Momente zu sehen. Die einfache Gleichung, dass Menschen in ländlichen Räumen "abghängt" fühlen, geht nicht auf. Deshalb erscheint Politik, die allein auf Infrastrukturmaßnahmen setzt, um einen Rückgang rechtspopulistischer und teilweise rechtsextremistischer Tendenzen zu erwirken, wenig erfolgversprechend.
Links und Downloads
Projekt: Armut und soziale Teilhabe in ländlichen Räumen
Projekt: Stabilität und Akzeptanz des demokratischen Systems in ländlichen Räumen
Thünen-Ansprechperson

Thünen-Beteiligte
Zeitraum
4.2018 - 3.2023
Weitere Projektdaten
Projektstatus:
abgeschlossen
Publikationen zum Projekt
- 0
Deppisch L (2025) „Wir sind nur Menschen zweiter Klasse“ : vom Abbau der Daseinsvorsorge und Aufstieg des Rechtspopulismus. Aus Politik Zeitgesch 75(10-11):45-53
- 1
Klärner A (2024) In Krisenzeiten zusammenhalten. LandInForm(4):12-13
- 2
Maurin J, Klärner A (2024) „Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“ [Interview] [online]. TAZ, zu finden in <https://taz.de/Soziologe-ueber-Stadt-Land-Gegensatz/!6043527/> [zitiert am 14.11.2024]
- 3
Klärner A, Lehmann N (2024) „Es gibt kein ländliches Elend“ [Interview]. Agrarheute(10):27-29
- 4
Deppisch L, Osigus T, Klärner A (2023) "Gefühle des Abgehängtseins" in ländlichen Räumen? Braunschweig: Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen, 2 p, Project Brief Thünen Inst 2023/38, DOI:10.3220/PB1693809389000