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Faktencheck

Werden die Fischbestände zu positiv berechnet?

Alexander Kempf, Gerd Kraus, Christopher Zimmermann, Nadine Kraft | 27.08.2024


SF Institut für Seefischerei
OF Institut für Ostseefischerei PB Pressestelle

Die Größe von Fischbeständen wird möglicherweise systematisch überschätzt – mit dramatischen Folgen für das Fischereimanagement. Das haben Wissenschaftler*innen um Graham J. Edgar in einer aktuellen Studie thematisiert. Sie ist zusammen mit einem Kommentar von Rainer Froese und Daniel Pauly am 22. August 2024 in der Fachzeitschrift Science erschienen. In unserem Faktencheck klären wir, ob die Ergebnisse auf die Fischbestände des Nordost-Atlantiks zutreffen und ob die vorgeschlagenen Lösungen anwendbar sind.

Was zeigen die Ergebnisse – und was nicht?

In ihrer Studie zeigen Edgar et al., dass bei 230 ausgewählten Fischbeständen die laut aktuellen Bestandsberechnungen vorhandene Bestandsbiomasse niedriger ausfällt als sie es in früheren Berechnungen war. Die Autor*innen interpretieren dies so: Die verwendeten Modelle für die Bestandberechnungen überschätzen die tatsächlichen Bestandsgrößen mehrheitlich – und der Fehler wird immer erst im Nachhinein sichtbar. Zudem tritt dieses Phänomen häufiger bei überfischten Beständen auf, die bereits kritische Biomassewerte erreicht haben. In einem Kommentar zu der Studie von Edgar et al. verallgemeinern Froese und Pauly das Ergebnis und stellen die Hypothese auf, dass die heute verwendeten komplexen Modelle der politikberatenden Fischereiwissenschaft dafür verantwortlich seien. Die Lösung sei, in Zukunft einfachere Modelle zu verwenden. Zudem suggerieren sie, dass derzeit keine Korrekturen für systematische Überschätzungen der wissenschaftlichen Empfehlungen in den Bestandsberechnungen vorgenommen würden.

Die Ergebnisse der Studie von Edgar et al. weisen auf eine systematische Abweichung (sogenannter Bias) bei vielen Bestandsberechnungen hin. Bei zufällig auftretenden Über-und Unterschätzungen würden hingegen eher nicht-systematische Abweichungen auftreten: Erwartbar wäre etwa eine gleiche Anzahl von Über- und Unterschätzungen aus den Modellen. Eine systematische Überschätzung der Biomasse kann in der Konsequenz zu falschen Entscheidungen im Fischereimanagement und damit zu Überfischung führen.

Wie dramatisch ist die Lage?

Das zentrale Ergebnis von Edgar et al. lautet: Aufgrund der Überschätzungen sind 85 Prozent mehr Bestände zusammengebrochen als derzeit angenommen. Betrachtet man die dahinter liegenden absoluten Zahlen, relativiert sich die Dramatik etwas: Das Plus von 85 Prozent entspricht elf Beständen. Statt 13 wären demnach 24 von 230 untersuchten Fischbeständen kollabiert – was alles andere als ein akzeptabler Zustand ist. Die Welternährungsorganisation FAO betrachtet im sogenannten SOFIA-Report regelmäßig 445 Bestände, von denen 37,7 Prozent als überfischt, kollabiert oder sich erholend bewertet werden („fished at unsustainable levels“). Nach FAO-Definition sind das alle Bestände, deren Bestandsgröße weniger als 80 Prozent BMSY beträgt.  Weniger als die Hälfte dieser knapp 38 Prozent sind tatsächlich kollabiert. Bezogen auf das Ergebnis von Edgar et al. wären also statt rund 15 Prozent etwa 28 Prozent kollabiert. Kritisch ist allerdings die von den Autor*innen verwendete, wenig taugliche Definition für kollabierte Bestände. Sie nutzen den Vergleich der aktuellen Biomasse mit der ursprünglichen unbefischten Biomasse. Kollabiert ist demnach ein Bestand, wenn weniger als zehn Prozent übrig sind (Worm, 2009). Für die meisten Bestände ist es jedoch gar nicht möglich, die ursprüngliche Biomasse zu bestimmen, zum Beispiel für alle ICES-Bestände. Als Alternative nehmen die Autor*innen für die meisten Bestände deshalb den maximalen Wert in der Zeitserie. Dieser hängt aber stark davon ab, über wie viele Jahre man einen Bestand überhaupt schon beobachtet. Maximalwerte sind häufig zudem Ausreißer in den Zeitserien oder stammen aus Zeiten mit anderen klimatischen Verhältnissen und veränderter Produktivität der Bestände.

Verzerrtes Bild nicht nur bei den Modellergebnissen?

Im zeitgleich mit der Studie veröffentlichten Perspective-Artikel, einem Meinungsbeitrag, der die vorgelegte Studie bewerten soll, fordern die Autoren Rainer Froese und Daniel Pauly pauschal einfachere Modelle für die Bestandsberechnungen, weil die komplexen Modelle für die systematischen Überschätzungen verantwortlich seien. Diese Schlussfolgerung lässt sich aus verschiedenen Gründen nicht aus der Studie von Edgar et al. ableiten: Für die offiziellen Bestandsberechnungen werden viele unterschiedlich komplexe Modelle und Modellklassen verwendet. In der Studie wurde aber gar nicht untersucht, ob sich die beobachtete systematische Abweichung der Berechnungsergebnisse zwischen komplexen und weniger komplexen Modellen unterscheidet. Richtig ist allerdings, dass die Ergebnisse auch keinen Hinweis darauf geben, dass komplexere Modelle zu einer besseren Performance führen. Einerseits muss man also durchaus hinterfragen, ob die Verwendung immer aufwändigerer, komplexerer Modelle sinnvoll ist. Andererseits können in Zeiten sich immer schneller ändernder Umweltbedingungen eben solche Modelle auch zu größerer Zuverlässigkeit führen. Die Kritik hat insofern ihre Berechtigung, als dass Wissenschaft eine Tendenz zur Verwendung von immer komplexeren Modellen hat – schlicht, weil es möglich ist und wissenschaftlich spannend. Die Frage ist daher berechtigt, ob für essentielle Grundlagen des Fischereimanagements nicht die Robustheit der Methoden oberstes Ziel sein sollte. Mit den Ergebnissen der Studie hat diese Frage allerdings nichts zu tun.

Was wissen wir bisher über systematische Fehler in der Bestandsberechnung?

Die Ursachen für sogenannte „Retrospective Patterns“, also systematische Abweichungen zwischen aktuellen und vorangegangenen Bestandsberechnungen, sind vielfältig, von Bestand zu Bestand unterschiedlich und oft schwer zu identifizieren. Sie entstehen beispielsweise, wenn sich unbemerkt Trends beim wissenschaftlichen Monitoring oder in den Fangdaten der kommerziellen Fischerei einschleichen. Auch der Verlust von Fischen durch natürliche Ursachen wie den Wegfraß durch Räuber ist häufig nicht ausreichend erforscht, oder Modellparameter werden nicht korrekt festgesetzt. Die Verantwortung allein den Modellen zuzuschreiben, greift zu kurz. Vielmehr sollte die Studie von Edgar et al. Anlass sein, die Ursachen für das Phänomen der häufigeren systematischen Über- und Unterschätzung genau zu analysieren und evidenzbasiert zu beseitigen.

Stimmt es, dass die systematische Überschätzung nicht korrigiert wird?

Die Aussagen von Froese und Pauly suggerieren, dass derzeit keine Korrekturen für systematische Überschätzungen in wissenschaftlichen Empfehlungen vorgenommen werden. Dies ist nicht korrekt.
Seit Langem ist bekannt, dass es bei Bestandsberechnungen zu systematischen Über- oder Unterschätzungen kommt. Im Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES) etwa werden neueste Ergebnisse mit denen früherer Jahre seit vielen Jahren verglichen, um diese Fehler aufzudecken. In jüngster Zeit hat der ICESein Regelwerk entwickelt, wie die Prognosen – und damit auch die empfohlenen Höchstfangmengen – bei problematischen Bestandsberechnungen angepasst werden müssen. Die Auswirkungen dieser noch recht neuen Entwicklung konnten in der Studie allerdings nicht berücksichtigt werden, weil dort Ergebnisse bis 2020 verglichen wurden.
Als Beispiel für die Anwendung der neuen ICES-Regel sei hier die Seezunge in der Nordsee genannt. Bei den ICES-Berechnungen für diesen Bestand wurde in 2023 eine systematische Überschätzung der Biomasse des Laicherbestands festgestellt. Daraufhin wurden die ICES-Regeln für derartige Situationen angewendet und die Prognosen um den systematischen Fehler in der Berechnung korrigiert. Im Ergebnis fiel die Fangempfehlung für 2024 deutlich niedriger aus. Die Wissenschaft hat der Politik eine Reduzierung um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr empfohlen.

Ist der Indikator Biomasse passend gewählt?

In der Studie analysieren Edgar et al. 230 Bestände aus unterschiedlichen Regionen der Welt gemeinsam, ohne regionale Unterschiede herauszuarbeiten. Zudem fokussiert die Studie alleine auf die Biomasse als Indikator für Nachhaltigkeit. Dabei gibt es mit dem Fischereidruck (F) ein deutlich direkteres Maß für den Einfluss des Menschen durch die Fischerei. Dieser Wert F kann ins Verhältnis zum Referenzwert bei einer nachhaltigen Befischung nach dem Prinzip des maximalen Dauerertrages (Maximum Sustainable Yield, MSY) gesetzt werden. Liegt F unterhalb von FMSY gilt ein Bestand als nachhaltig befischt. Bei überfischten oder kollabierten Beständen dauert es manchmal mehrere Jahre, bis sich die Biomasse nach ausreichender Reduzierung des Fischereidrucks wieder erholt – dies kann aber eben nur durch Einschränkung der Fischerei erreicht werden. Denn die Bestandsentwicklung wird neben der Fischerei auch von diversen anderen Faktoren beeinflusst. Insbesondere nehmen die Umwelteinflüsse in Zeiten des Klimawandel deutlich zu.

Eine retrospektive Analyse des Verhältnisses von F/FMSY durch das EU-Scientific Technical and Economic Committee for Fisheries (STECF) zeichnet ein anderes Bild der nachhaltigen Nutzung für Bestände in EU- Gewässern des Nordost-Atlantik als die eben veröffentlichte Studie (Abbildung 1). F/FMSY wurde in den STECF Reports vergangener Jahre im Mittel sogar überschätzt. Damit ist das Ziel einer nachhaltigen Befischung aller Bestände näher gerückt, als dies für Manager noch vor wenigen Jahren erwartbar war.

Ähnlich sieht das bei der Entwicklung der Biomassen seit 2003 aus. Die retrospektive Analyse des STECF zeigt für die Jahre zwischen 2015 und 2019 wie bei Edgar et al. eine Tendenz, die Entwicklung der Biomasse zu überschätzen (Abbildung 2). Ab 2019 ist dies aber nicht mehr der Fall. Und für die Jahre vor 2015 wurde die Entwicklung der Biomasse in früheren Analysen eher zu pessimistisch eingeschätzt.
Für belastbare Ergebnisse kommt es offensichtlich auf die Wahl des Indikators für eine nachhaltige Nutzung an, auf regionale Entwicklungen über die Zeit und sogar auf die gewählten Vergleichsjahre. Unsicherheiten müssen klar kommuniziert werden, damit etwa die Politik einen risikoarmen Ansatz verfolgen kann. Dass dies funktioniert, zeigen die Beispiele Westdorsch und Nordseehering. Für diese Bestände wurden die Fangmengen in einzelnen Jahren niedriger festgesetzt als wissenschaftlich empfohlen.

Fazit

Die Studie von Edgar et al. liefert einen wichtigen Diskussionsbeitrag zur Verbesserung von Bestandsmodellen für das Fischereimanagement. Die Methode ist jedoch nicht neu und liefert wenig überraschende Ergebnisse. Die Studie springt in der Analyse der Ursachen für die systematische Überschätzung der Biomassen in den Modellen allerdings deutlich zu kurz und bewertet das Ergebnis über. Die systematische Abweichung wird als ein universelles, ungelöstes Problem dargestellt. In verschiedenen Meeresregionen stimmt dies aber nicht mehr, weil entsprechende Korrekturen schon greifen, etwa beim ICES für den Nordost-Atlantik inklusive der Nord- und Ostsee. Das Fehlen einer Untersuchung der Ursachen für die beobachtete systematische Abweichung öffnet Räume für bewusste und unbewusste Fehlinterpretationen, um damit z.B. politische Ziele zu erreichen. Das ist schade, denn die Studie liefert interessante Ergebnisse, die den Kern von Wissenschaft ausmachen – erzielte Ergebnisse immer wieder zu hinterfragen und mit neuen Erkenntnissen sich herauszufordern, besser zu werden. Die Forderung von Froese und Pauly, in Zukunft einfachere Modelle für Bestandsberechnungen zu verwenden, um die Probleme bei den systematischen Über- und Unterschätzungen zu lösen, ist von den Ergebnissen der Studie nicht gedeckt und praktisch in seriöser Wissenschaft nicht umsetzbar.

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